Wenn der Flow Pause machen muss

Gerade fühle ich mich wie der berühmte Tausendfüssler, der darüber nachdenkt, wie er es eigentlich schafft, seine Füsse zu koordinieren. Ergebnis: er stolpert. In meiner Welt bedeutet dies: ich zweifle. Ich zweifle am an sich unstrittigen Konzept des Flow. Weshalb?

Erstens: ich habe Zeit zum Nachdenken. Dies führt zuverlässig dazu, dass ich mir den Luxus gönne, Überzeugungen, Glaubenssätze und Gewohnheiten, die mir stets Sicherheit suggerierten, zu hinterfragen. Das Leben wird dadurch nicht unbedingt glücklicher, aber in jedem Falle interessanter. Zweitens: am letzten Lagerfeuer haben wir Schreibfreundinnen uns für folgendes Thema entschieden: «Was geschieht, wenn der Flow Pause macht?» Ich muss die Zweifel also aufschreiben und kann sie nicht einfach unter den Teppich kehren, was manchmal ja auch ganz praktisch ist.

Wenn ich nicht genau weiss, weshalb ich Selbstverständliches plötzlich in Frage stelle, komme ich nicht umhin, mir die Sache genau anzuschauen. Die Juristin in mir greift dann instinktiv zu einer Orientierungshilfe in Form einer Definition, um das Fragezeichen in seine Einzelteile zu zerlegen. Das Flow-Konzept geht bekanntlich auf Mihaly Csikszentmihalyi zurück und ist in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zu verorten. Die Welt war damals gefühlt noch etwas unkomplizierter. Nach seiner Definition sind wir im Flow, wenn wir uns auf eine Tätigkeit fokussieren, unser Handeln und unsere Bewusstheit dabei miteinander verschmelzen, unser reflexives Ich und das Zeitgefühl vergessen gehen, wir über das Gefühl der Kontrolle über das eigene Tun verfügen und die Tätigkeit an sich als lohnend erleben. Im Flow sind wir nach dieser Definition nur, wenn all diese Voraussetzungen erfüllt sind. Fehlt etwas davon, sind wir höchstens in einem Möchtegern-Flow. So ähnlich wie in einem Yoga-Retreat, in dem wir ständig unsere Nachrichten checken.

Diese Flow-Definition stimmt mit meiner Erfahrung überein. Den Flow kann ich fühlen, wenn ich auf der Yogamatte angekommen bin und die Welt weitgehend in Ordnung ist. Oder wenn ich schreibe und Letzteres ebenfalls gilt. Geht aber nicht, wenn andere Dinge meine Aufmerksamkeit übermässig beanspruchen. Damit meine ich nicht eine volle Mailbox, viele tatsächliche oder eingebildete Pflichten oder endlose Gedankenschleifen, die mich ablenken. In diesen Fällen fehlt es mir an Bewusstheit und das ist ein Entwicklungsfeld, für das die Yogamatte höchstens ein möglicher Übungsweg, die reale Welt aber deutlich zielführender ist. Das sagt die Yogalehrerin in mir.

Mit den „anderen Dingen, die meine Aufmerksamkeit übermässig beanspruchen“ meine ich die Kategorie Schicksalsschläge. Schwere Erkrankungen bei einem selbst, im Freundes- oder Familienkreis, unfreiwilliger Jobverlust, betagte Eltern oder eigene Kinder, die aus welchen Gründen auch immer viel Unterstützung benötigen, um nur ein paar dieser Herausforderungen zu nennen. In all diesen Fällen eben, in denen wir das Gefühl der Kontrolle über das eigene Tun nicht mehr haben können. Dann macht der Flow nicht nur Pause, er ist dann gerade einfach nicht mehr wichtig. Oder nicht genug. Und wenn ich in solchen Momenten meine, ich müsse jetzt doch irgendwie in den Flow kommen, erzeugt das bei mir Stress und das Gefühl, dass mich die innere Ruhe jetzt gerade mal kann.

All das spricht natürlich nicht gegen das Konzept des Flow, es ist ja eine schöne Sache und unser Vagusnerv freut sich riesig über jeden Flow-Moment. Meine Zweifel rühren wohl eher daher, dass Flow heute zunehmend als universeller Heilsbringer verkauft wird. Oder umgekehrt: wenn ich nicht im Flow bin, dann stimmt angeblich irgendwas nicht mit mir. Der Flow ist dann in dieser «schneller-weiter-höher-Ecke» gelandet. Da bin ich raus.

Deshalb glaube ich mittlerweile ja eher an das Konzept des Schaukelns. Sich auf eine Schaukel setzen, abstossen und hin- und herschwingen. Aufschwingen, die grosse Begeisterung im Höhenflug spüren, ganz oben den Glücksmoment geniessen, das flaue Gefühl im Magen beim Abschwingen aushalten und dann wieder neuen Schwung holen. Zwischen den Gegensätzen des Lebens mäandern. Das ist kein Flow, das ist der Lebensfluss. Den Flow würde ich vielleicht beim Glücksmoment verorten, eben als Moment.

Zu Reisen ist zum Beispiel wunderschön. Wir können von gewohnten Leben wegschaukeln und sind dann froh, wieder in unseren Alltag eintauchen zu können. Die Erfahrung lehrt uns, dass jede Verzauberung von Ernüchterung abgelöst wird. Wird ein Sehnsuchtsort plötzlich zum Alltag, ist es kein Sehnsuchtsort mehr. Ich gebe zu, all diese Gedanken haben weniger einen theoretischen Hintergrund sondern vielmehr – leider – einen lebenspraktischen. Gerade begleite ich meine demente Mutter auf dem Weg ins Pflegeheim. Die Unberechenbarkeit dieser Krankheit, das Verschwinden eines vertrauten und geliebten Menschen und das durchleben der eigenen Kindheit in ganz neuen Facetten führen dazu, dass ich nun seit geraumer Zeit das flaue Gefühl im Magen beim Abschwingen aushalte. Aber der neue Schwung kommt. Und das Vertrauen in diesen Lebensfluss ermöglicht das Aushalten.

Diese Gedanken und das Gefühl des Schaukelns führen mich zur Überzeugung, dass der Flow immer wieder Pause machen muss und zwar schlicht und einfach deshalb, weil es für mich im Leben immer um die Balance geht, also um das richtige Mass. Den Weg zwischen Zuviel und Zuwenig zu finden, zwischen Anstrengung und Entspannung, zwischen glücklich und traurig, zwischen Licht und Schatten. Und unser ganz persönliches richtiges Mass können wir mit dem Schaukeln in Erfahrung bringen. Und uns ab und zu an einem Flow erfreuen. Aber jetzt kommt erst einmal der neue Schwung.

Willst Du wissen, wie die anderen Schreibfreundinnen die Flow-Pause erleben? Dann komm lesen!

Susanne

Christine

Alexandra

Claudia

Evelyne