Wenn die Scham aufs Papier tropft

In meiner Kindheit war mein fester Begleiter ein Goldhamster. Die kleinen Tierchen werden leider nur zwei bis drei Jahre alt, deshalb waren es mehrere Generationen. Sie hiessen abwechselnd – entsprechend meiner schweizerisch-deutschen Herkunft – Brösmeli oder Krümel.

Eines Tages kam aus unserem Garten ein herzzerreissendes Quieken, begleitet von hektisch raschelnden Geräuschen, die ich nicht zuordnen konnte. Alarmiert raste ich hinaus und stand vor einer schrecklichen Szenerie. Brösmeli oder Krümel, so genau weiss ich das nicht mehr, stand auf seinen Hinterpfoten unter einer Tanne. Sein Fell war ganz stubbelig und nass und drei Katzen lagen im Halbkreis und in Lauerstellung um ihn herum. Irgendwie hatten sie es geschafft, den armen Kerl aus seinem Hamsterkäfig zu angeln um ihn dann bis zur fast vollständigen Erschöpfung durch den Garten zu jagen. Um es vorweg zu nehmen: ich konnte ihn retten.

Als wir Schreibfreundinnen am Lagerfeuer beschlossen, uns über die Scham beim Schreiben Gedanken zu machen, hatte ich genau dieses Bild vor Augen. Krümel alias Brösmeli als verkörperte Scham. Lange habe ich mich gefragt, weshalb gerade jetzt dieses Bild auftaucht, an welches ich mich seit vielen Jahren nicht mehr erinnert hatte. Ich musste eine Weile darüber nachdenken, deshalb kam mein Text auch später als vereinbart (danke euch für eure Geduld). Ich habe nun folgende These:

Wenn ich schreibe, ist das immer eine Reise ins Ungewisse. Je früher am Morgen ich das tue, umso überraschender sind die Wege, die mein Denkprozess geht. Oder anders ausgedrückt: mir fehlt zu der noch sehr frühen und ruhigen Tageszeit einfach noch die Kontrolle über das, was ich tue, denke und fühle. Deshalb bin ich ja auch nicht, was ich tue, denke und fühle. Ich schreibe über sehr persönliche Dinge, die zu einer anderen Tageszeit kaum den Weg aufs Papier finden würden (oder die in Form eines zusammengeknüllten Papiers sofort im Papierkorb entsorgt würden).

Es ist auch die Tageszeit, in der ich über meine Kindheit schreiben kann. Die Kindheit ist ja ein Tummelfeld mit unangenehm hohem Schampotential. Dort sind diese ganzen «ich-bin-schlecht-weil»-Glaubenssätze begraben, die mich jeweils direkt in eine Schreibblockade führen. Morgens um 5, wenn sich der Tag noch anfühlt, als ob er mein Geheimnis wäre, zeigt sich aber nicht selten ein Ausgang aus meiner lähmenden Sprachlosigkeit, die ich sonst bei diesem Thema verspüre. Plötzlich kann ich mit der Sprache aus dieser Enge finden. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man das Schamtüre nennt.

Sobald weiteres Leben in den Tag kommt und die Welt Erwartungen an mich stellt, steht der zitternde Goldhamster schnell wieder da, aber wenigstens merke ich es jetzt. Ich weiss, dass sich meine Schreibe nun verändert, erstarre aber nicht mehr. Das ist der Moment, indem ich dem ich den kleinen Brösmelikrümel rette und erst einmal tröste.

Scham ist etwas Wunderbares. Wenn ich Scham verspüre, beginne ich neu zu denken und neu zu fühlen. Angesichts des Umstandes, dass 50’000 bis 60’000 Gedanken pro Tag durch unseren Kopf rasen, 98% davon sich wiederholen und 80% davon negativ sind ist das eine richtig gute Nachricht. Scham ist das Tor zur Veränderung. Und das Beste daran: alles was man so schreibt, muss man ja nicht wirklich grad tun, aber wer weiss denn, wo es hinführt. Ich habe mich in den frühen Morgenstunden der letzten zwei Jahre aus einer Situation herausgeschrieben, die vordergründig ganz toll war, mir aber so gar nicht gut tat (dazu an anderer Stelle mehr). Es lebe der Schreibprozess.

Wenn ich es geschafft habe, durch dieses Schamtor zu gehen, dann sehe ich nun übrigens ein ganz anderes Bild vor mir. Krümel mit Popcorn in den Backen. Dann sah er immer aus wie ein Wölkchen.

Du bist neugierig, was bei den anderen Schreibfreundinnen geschieht, wenn die Scham aufs Papier tropft? Hier erfährst Du mehr:

Susanne

Alexandra

Claudia

Christine

Evelyne