Im Juni 2022 sassen wir Schreibfreundinnen zusammen am Lagerfeuer und unterhielten uns über die Frage, wann wir zum ersten Mal spürten, dass in unserem Leben etwas nicht stimmte. Ich erinnere mich sehr genau. Es war ein Moment, den ich nicht mehr vergessen werde. Ein sogenannter Quantenmoment.
Es war ein kühler Frühlingsmorgen. Ich lief von meinem Parkplatz zum Büro und wollte die Strasse überqueren. Als ich am Fussgängerstreifen stand, war da plötzlich diese Frage, von der ich erst später wissen würde, dass es keine Frage, sondern die Antwort war: «Und wenn wir nach der Pandemie einfach gehen?» Es war ein Tag, der so vieles veränderte in meinem Leben und dennoch kam er im ersten Moment wie eine harmlose Ahnung daher, auf sehr leisen Pfoten. Scheinbar. Dennoch wusste ich ganz tief in mir drin, dass es viel mehr als eine Ahnung war. Es war, als ob ich endlich meinen eigenen Hilfeschrei gehört hätte und mir selber antwortete: «Hör auf zu gefallen und fang an zu leben. Jetzt!»
Lange nahm ich unendlich viel Anlauf, um mit voller Wucht in die Falle zu tappen. Eine lange Zeit, in der ich eine breite Palette von Betäubungsmechanismen bespielte, um mich bloss nicht zu spüren. Ich arbeitete mich jede Leiter empor, die sich mir bot, einfach um all jenen, die behaupteten, sie schafft das nicht, irgendetwas zu beweisen. Wer behauptete das eigentlich noch? Mittlerweile wahrscheinlich nur noch ich selbst. Und ich merkte es einfach nicht. Ich merkte nicht, wie ich mich selbst erschöpfte. Ich fühlte nicht, dass ich nichts mehr fühlte. Ich spürte nicht mehr, was mit mir geschah, als ich über Jahre hinweg so viel Sport machte und meine Ernährung «optimierte», bis sich mein Körperfettanteil mitsamt meiner inneren Frau auflöste. Ich war stolz auf meine Muskeln und merkte nicht, dass es nur transformierte Wut war. Dieses Gefühl, alles im Griff zu haben, nur weil ich gefiel.
Dann kam die Pandemie. Ich arbeitete ständig und ich war stolz, als ich durchhielt, als viele andere nicht mehr konnten. Und ich war wütend, unendlich wütend. Vielleicht ist es rückblickend diese Wut, die mich gerettet hat. Zumindest war sie der Beginn meiner Rettung. Sie brachte mein System zum implodieren. Plötzlich glaubte ich nicht mehr an das System, indem ich mich seit Jahrzehnten mit vermeintlicher Leichtigkeit bewegt hatte. Meine ganzen Tools griffen nicht mehr. Ich merkte, wie ich mechanisch meditierte und Yoga praktizierte. Wo war sie, meine Gelassenheit, von der ich ernsthaft dachte, ich hätte sie? Alles Theorie, angelesen und das Programm abgespult. Mein Körper begann mir Zeichen zu senden. Ich war unendlich müde, eigentlich immer, und hatte immer wieder Verletzungen. Und ich füllte die Leere, bis auch hier mein Körper anfing, zu rebellieren.
In diesem Moment am Fussgängerstreifen schien ich all diese Zeichen plötzlich zu verstehen. In stand dort und spürte für einen ganz kurzen Moment die Verbundenheit, die ich bisher nur in Spanien spürte. Wenn ich am Ebro stehe und aufs Meer hinausschaue, fühle, wie das Schilf sich im Wind bewegt. Ich spürte eine so wohltuende Sehnsucht nach dieser Verbundenheit und ich spürte mich einen ganz kleinen Moment wieder als die Frau, die ich tief in meiner Seele bin.
Was seither geschah? Ich schlafe mehr, schreibe jeden Tag, mache Sport, wenn mir wirklich danach ist und ich tue nicht mehr so, als würde ich meine Arbeit toll finden. Und vor allem tue ich nicht mehr so, als würde ich mein Leben im Griff haben. Ich tappe noch immer in die Falle, regelmässig. Aber ich verurteile mich nicht mehr dafür, weil ich weiss, dass sie zu mir gehört, die Falle.
Und hier geht es zu den Quantenmomenten der Schreibfreundinnen: