Die Kunst des Vergessens

Vor dem Haus in dem ich seit kurzem wohne, stehen riesige Bäume. Vermutungsweise sind es Eschen, zumindest sind sie eschenähnlich. Was ich mit Sicherheit sagen kann ist, dass sie von unzähligen Eichhörnchen bevölkert werden. Fauna liegt mir mehr als Flora. Jedenfalls ist es auf dem eschenähnlichen Gewächs in den letzten Tagen deutlich wuseliger geworden. Ich weiss nicht, ob es an meiner eigenen herbstbedingten Nestbaustimmung liegt, aber ich bilde mir ein, die Eichhörnchen sammeln Vorräte für den Winter. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die putzigen Tierchen gerne vergessen, wo sie ihre Nüsse versteckt haben und im Winter dann schlimmstenfalls verhungern. Spätestens seit das Thema Demenz in meiner Familie angekommen ist, macht mich die Frage des bestehenden oder nicht (mehr) bestehenden Erinnerungsvermögens abwechselnd nachdenklich, nervös, panisch oder traurig.

Wenn ich nicht genau weiss, wie ich mit einem Gefühl umgehen soll, versuche ich es zu neutralisieren, indem ich es mir genauer anschaue. Das beruhigt. Was genau ist also eine Erinnerung? Eine Erinnerung ist ganz vereinfacht eine Reaktion auf das, was ich erfahren habe. Ich erfahre etwas, indem ich es sehe, rieche, höre, schmecke oder fühle. Um etwas überhaupt erfahren zu können, muss ich aufmerksam sein. Das heisst: ohne Aufmerksamkeit keine Erinnerung. Dies wird mir beispielsweise immer dann bewusst, wenn ich im Parkhaus nach meinem Auto suche.

Die Entstehung einer Erinnerung ist ziemlich komplex und darüber wurden schon grossartige Bücher geschrieben. Mangels Fachexpertise werde ich mich aber hüten, mich dem Thema medizinisch zu nähern. Vielmehr beschäftigt mich, wie ich mit dem Thema Erinnerung bei mir, bei meinen Mitmenschen und neuerdings auch bei Eichhörnchen im Alltagsgebrauch umgehen soll. Dafür ist es aber dennoch spannend zu wissen, wie in etwa eine Erinnerung entsteht.

Nehmen wir folgendes Bild: An einem schönen Spätsommertag wandere ich zwischen Weinreben entlang, es riecht nach feuchten Blättern und süssen Trauben und ich kann es nicht lassen, einige davon zu stiebizen. Sie schmecken einfach himmlisch und ich fühle die noch warme Sonne und einen sanften Wind auf meiner Haut. Über mir gleitet leise ein Milan, wie man ihn nur hören kann, wenn es ansonsten absolut still ist.

Da die Wahrnehmungen unserer Sinne unterschiedlichen Orten im Gehirn zugewiesen werden können, entsteht nun eine Art Collage, indem sich die neuronalen Aktivitäten zu einem Muster zusammenfügen. Zuständig dafür ist das kleine Seepferdchen (der Hippocampus) in der Mitte des Gehirns, der die Erfahrungen zu einer Erinnerung verbindet. Dieses Muster wird nun aufrechterhalten. Ich kann das Muster wieder abrufen, aber nur in seiner veränderten Form. Ich hatte mal einen Arbeitskollegen, der war unfassbar unsicher, wenn er etwas schrieb. So gab es in seiner Ablage von jedem Schreiben V.1 bis – je nach Komplexität des Sachverhalts – V.27 (oder mehr). Jede abgespeicherte Version war wieder ein klein wenig anders. So ist es auch jedes Mal, wenn eine Erinnerung neu abgerufen wird. Sie verändert sich immer ein wenig. Deshalb erinnern wir Erinnerungen, wir wiederholen sie nicht. Erinnerungen sind also in der Regel voller Verzerrungen, Lücken, Zusätzen die es nie gab und anderer Irrtümer. Grundsätzlich entsprechen sie nicht der Wahrheit, was ich ungemein beruhigend finde. Es erhöht auch meine Toleranz mir und meinen Mitmenschen gegenüber deutlich.

Weit beunruhigender ist aus meiner Sicht, sich gar nicht mehr erinnern zu können. Damit meine ich nicht Situationen, in denen ich in ein Zimmer gehe und nicht mehr weiss, was ich dort wollte oder in denen ich meine Schlüssel nicht wiederfinde. Ich meine diese Lücken im Langzeitgedächtnis, als ob Teile der Kindheit oder Jugend plötzlich gelöscht worden wären. Unsichtbare Jahre, die sich dumpf anfühlen. Und ich mich irgendwie verloren und wurzellos. Nun stelle ich aber fest, dass dies so nicht zutrifft. Seit ich meine Tage nicht mehr eingebettet in die Strukturen meines Terminkalenders und meiner Mailbox verbringe, habe ich nämlich wieder eine Vergangenheit. Ich nehme zum Beispiel Gerüche wieder intensiver oder überhaupt war. Und sie verknüpfen sich mit Bildern, Tönen, Gefühlen und Geschmack. So wecken die herbstlichen Früchte auf dem Markt plötzlich Erinnerungen an das Pilzesammeln mit meinem Vater im Wald am Sonntagvormittag. Und an die Momente, in denen wir danach zusammen auf einer Bank am Wegrand sassen, frische Milch tranken und ein Butterbrot assen. Wie war das noch gleich? Mein Vater, der nie Zeit hatte und immer gereizt war? Urplötzlich sind auch andere Erinnerungen wieder wach, schöne Erinnerungen, die Freude und Dankbarkeit hervorrufen.

Ja, auch diese Erinnerung entspricht wohl nicht ganz den Tatsachen, vermutungsweise ist es V.14. Na und? Ich empfinde sie als heilsam und irgendwie bedeutet sich erinnern ja auch vergessen. Vergessen, was einfach nicht mehr wichtig ist. Vielleicht geht es aber gar nicht so sehr um die Erinnerung oder das Vergessen an sich, sondern um das, was dazwischen ist. Über den Zwischenraum, der alles ganz werden lässt. Ganz so, wie die Geheimnisse des Lebens im Raum zwischen den Gedanken verborgen sind. Aber um dorthin zu kommen, braucht es tiefe Zeit.

Ein Eichhörnchen versteckt über das Jahr hinweg übrigens bis zu 10’000 Nüsse. Je nach Eichhörnchen-Studie finden die Tierchen ungefähr die Hälfte der Nüsse wieder. Sofern sich keine anderen Interessenten finden, verbleiben die übrigen im Boden und helfen, den Wald aufzuforsten (und machen ihn ganz).

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Marion

Dozentin, Schreibpädagogin und Yogalehrerin

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