Die innere Stimme schafft Vertrauen (Reise in die Stille Teil 6)

Es ist schon spät am Abend. Ich sitze in der Küche bei einer feinen Tasse Tee und schreibe. Kater Rumi mauzt. Nein, er quengelt. Er will raus auf seine Abendrunde. Leicht genervt unterbreche ich meinen Schreibfluss, öffne die Terrassentür und er schlüpft raus in die Dunkelheit. Kaum habe ich die Türe geschlossen, steht er wieder da und schaut mich durch die Glasscheibe an wie ein Auto. Das tut er öfters, wenn er erst draussen merkt, dass es regnet und er keine Lust auf nasse Pfoten hat. Heute ist aber ein schöner und noch warmer Spätsommerabend. Ich öffne die Türe, Rumi flitzt wieder in die Küche und versteckt sich hinter meinen Beinen. Draussen auf der Terrasse entdecke ich etwas, das wie eine grosse Kugel aussieht. Erst auf den zweiten Blick sehe ich, dass es ein Igel ist. Ich kann nicht anders. Ich muss laut lachen. Gut, es ist ein grosser Igel, aber Rumi ist kein Leichtgewicht und durchaus wehrhaft. Ich schaue zu ihm runter und mir wird ganz warm ums Herz. Er sitzt jetzt neben meinen Beinen und schaut mit einem offensichtlichen Unbehagen Richtung Igel. Einen Hund würde er anknurren, mit einer klaren Absicht. Der Igel hingegen scheint ihn zu treffen. Mitten in seine Verletzlichkeit. Und die Tatsache, dass ich ihn gerade auslache wahrscheinlich auch.

Werden wir mit unserer Verletzlichkeit konfrontiert, gibt es zwei Möglichkeiten. Wir aktivieren aus Angst unsere Schutzschilder oder wir lassen die Verletzlichkeit zu. Ein beliebter Schutz ist der Perfektionismus. Hier geht es nicht darum, etwas besonders gut zu machen. Es geht letztlich allein darum, eine Beurteilung, die wir fürchten, zu vermeiden und eine Bestätigung zu bekommen, die wir gerne hätten. Erwiesenermassen ist Perfektionismus keine erfolgreiche Strategie. Oft gehen Depression, Ängstlichkeit, Sucht, Scham und die unterschiedlichsten Formen von Selbstzerstörung mit ihm einher. Ein weiterer beliebter Schutz vor Verletzlichkeit ist die emotionale Betäubung. Wenn wir Angst haben, uns abgesondert, verletzlich allein und hilflos fühlen, erscheinen Alkohol, Essen, Arbeit und endloses Surfen im Internet wie ein Trost. Danach fühlen wir uns aber meist wieder leer und auf der Suche.

Meist betäuben wir irgendein Unbehagen. Doch genau dort liegt der Schlüssel, um die nächste Tür zu öffnen. Den Mut zur Unbequemlichkeit müssen wir kultivieren. Ab und zu müssen wir es einfach aushalten, wenn es so richtig ungemütlich wird. Das hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun. Im Gegenteil. Es ist ausgesprochen mutig. Jede Führungskraft, die schon einmal einen Change-Prozess begleitet hat, kennt diesen Prozess, hoffentlich. Sich auf ein Unbehagen einzulassen bedeutet gleichzeitig, dass wir uns auf unsere Verletzlichkeit einlassen.

Gehe wir durch diese Tür und akzeptieren wir unsere Verletzlichkeit, werden wir anders. Weshalb ist das so? Und was ist das? Auf meiner eigenen Reise erfahre ich es so: In dem Moment, indem ich mich richtig darauf einlasse, dass mir eine Situation Unbehagen verursacht, werde ich ganz ruhig. Ich gehe komplett aus dem Widerstand heraus und lasse es einfach zu, dass jemand meinen Entscheid und vielleicht auch mich doof findet. Ich halte es einfach aus und je länger ich das tue, je länger ich mich meiner Verletzlichkeit stelle, umso durchlässiger werde ich. Nein, nicht dünnhäutig, sondern durchlässig. Ich fühle, ob etwas richtig ist oder nicht. Und das, was ich fühle, ist reines Vertrauen in das Leben.

Legen wir unseren Panzer ab, verändert sich alles. Es ist ein bisschen so, wie wenn das trübe Wasser klar wird. In dieser Form von Stille, die einfach im Aushalten oder Zulassen besteht, setzt sich der Schlamm. Das ist keine Frage des Willens, es geschieht nicht im Kopf sondern woanders. Das ist auch das Problem mit der inneren Stimme. Man kann sie nicht hören wollen. Deshalb hört man sie auch nicht in erster Linie auf dem Meditationskissen. Man kann das versuchen. Wenn ich mich aber auf mein Kissen setze mit der Absicht, in mich hinein zu hören, verlaufe ich mich meistens und lande irgendwo weit oben. Ich höre dann schon etwas, aber es kommt aus meinem Kopf und meistens ist es ziemlich laut. Laute Gedanken. Die innere Stimme – oder das Selbst – ist aber leise, sehr leise. Deshalb kann man sie wohl gar nicht wirklich hören, sondern nur FÜHLEN.

Mein Selbst und ich führen eine komplizierte «on and off»-Beziehung. Fahre ich meine Selbstschutzmechanismen wieder hoch, spüre ich nichts mehr. Das passiert rasch, und das kann ich richtig gut. Jahrelange Übung löst sich nicht so rasch in Luft auf. Seit mich die Wechseljahre mit allerlei «weniger von xyz» in Form von Wein, Kaffee oder Schokolade überraschen, ist aber selbst die Form der Betäubung etwas komplizierter geworden. Nüsse gehen aber immer. Ich mutiere in solchen Situationen jeweils zum Eichhörnchen. Manchmal erwische ich den Moment aber. Der Moment, indem ich im Unbehagen stehen bleiben soll. Ich stehe dann allerdings nicht, sondern setze mich auf mein Meditationskissen. Und nein, nicht um meine innere Stimme zu hören, das geht ja bekanntlich nicht, wenn ich das will, sondern um zu warten, bis der Eichhörnchen-Impuls vorbei ist.

Bei der Meditation geht es auch darum, in einen Bereich jenseits der alltäglichen Gedanken vorzudringen. Der ruhige Geist ist dabei kein Ziel an sich, er ist einfach eine Startrampe. Wenn ich mich in so einer Situation auf mein Kissen setzte erhole ich mich von einem Ungleichgewicht, das mich vorübergehend aus der Balance gebracht hat. Dazu müsste ich mich nicht einmal auf ein Kissen setzen. Ich könnte mich auch einfach wie an einem Anfängerinnen-Tag ganz achtsam einen Tee kochen. In der Achtsamkeit erholt sich mein Geist von Ablenkung. Oder ich könnte mich auf nur eine Sache konzentrieren, zum Beispiel auf eine Strickarbeit. Konzentriere ich mich, erholt sich mein Geist von Sinnlosigkeit. Und nein, stricken ist nicht sinnlos. Schon gar nicht, wenn nicht mehr über 19 Grad geheizt werden darf. Oder ich atme kontrolliert. Dann erholt sich mein Geist von Stress. In Eichhörnchen-Momenten brauche ich aber meist einen ruhigen Geist, weil ich mich von Überlastung erholen muss. Deshalb setze ich mich dann doch auf mein Kissen und warte, bis das trübe Wasser wieder klar wird.

In der Stille kann das Bewusstsein wachsen. Und zum Bewusstsein gehört auch, dass wir uns wieder mit unseren wahren Gefühlen verbinden. Erst wenn wir unsere innere Stimme fühlen, entsteht das Vertrauen, das wir brauchen, um ein zufriedenes Leben zu führen. Letztlich geht es darum, sich der inneren Bestimmung des eigenen Lebens bewusst zu werden. Und das können wir nur, wenn wir uns in unserem Vertrauen verankern können.

Vertrauen ist nichts anderes als akzeptierte Verletzlichkeit. Und Verletzlichkeit ist immer auch Mut. Ich bin stolz auf Rumi und es tut mir leid, dass ich ihn ausgelacht habe. Die Sache mit dem Igel war richtig mutig.

Hier enden die Einblicke in die Reise der Stille. Möchtest Du mehr stille Geschichten lesen? Dann freue Dich auf das Buch. Coming soon…

In der Präsenz hören wir unsere innere Stimme (Reise in die Stille Teil 5)

Kater Rumi, mein Reisebegleiter in die Stille, ist bekanntlich mein grosses Vorbild. Meistens. Heute fordert er mich gerade heraus. Er hat gekotzt. Das ist für Katzen nicht ungewöhnlich und auch weiter nicht schlimm. Aber er hat herzhaft auf mein Meditationskissen gekotzt. Es gibt Grenzen, wirklich. Eigentlich würde ich von mir zumindest Fassungslosigkeit erwarten. Ich bin aber ganz ruhig und putze das übel riechende Häufen tiefenentspannt weg.

Diese Ruhe hat einen Grund: Klarheit. Ich habe eine Frage aus der Kategorie «Soll ich bleiben oder gehen?» nach langer Zeit abschliessend beantworten können. Und hier kommt der kleine Reisebericht:

Im Alltag gehen wir davon aus, dass für das Verstehen allein der Verstand zuständig ist. Im letzten Blog (Teil 4: Präsenz entsteht durch Körperwahrnehmung) haben wir aber gesehen, dass wir die Welt nur durch unseren Körper verstehen können. Bevor der Verstand etwas entziffern kann, ist immer zuerst der Körper im Spiel. Wir spüren einen Klos im Hals, ein Loch im Bauch oder ein Klopfen im Herzen. Oder wir spüren eben eine tiefe innere Ruhe, dieses Gefühl, angekommen zu sein. Es ist der Moment der Klarheit, indem man es einfach weiss. Man weiss, ob man kündigen oder im Job aushalten soll wegen der Sicherheit. Man weiss, ob man sich scheiden lassen oder der Ehe nochmals eine Chance geben soll. Man weiss, ob man umziehen oder im gewohnten Umfeld bleiben soll. Einer solchen Klarheit gehen oftmals jahrelange zermürbende Lebensphasen voraus, die einem den Schlaf rauben.

Die Klarheit ist eine Gewissheit, die man fühlt, man denkt sie nicht. Aber man kann sie hören. Wir sprechen dann auch davon, dass wir unsere innere Stimme hören. Aber was ist das genau, was wir da hören? Es ist etwas, das schon immer da war. Es ist ein Raum zwischen Körper und Geist. Man kann ihn als das unbewusste Selbst bezeichnen.

In unserem Gehirn lässt sich der bewusste Verstand im Cortex direkt hinter der Stirn verorten. Der Verstand kann immer nur eines nach dem anderen verarbeiten. Erstaunlicherweise gibt es nach wie vor Menschen, die behaupten von sich, «multitasking» zu sein. Was auch immer diese Menschen da tun, denken ist es jedenfalls nicht, man kann nicht zwei Gedanken gleichzeitig denken. Ganz anders ist dies beim unbewussten Selbst. Unser unbewusstes System arbeitet nicht nur sehr schnell, sondern auch noch parallel. Es hat die Aufgabe, uns möglichst sicher durchs Leben zu führen und im Zweifel dem Säbelzahntiger davonzurennen. Das unbewusste Selbst ist im evolutionsbiologisch sehr alten limbischen System zu verorten, das für Gefühle zuständig ist.

Was ist aber nun dieses Selbst, das zu uns spricht? Man kann es bei anderen Menschen erkennen. Es sind Menschen, die in sich ruhen, einfach ganz sie selbst sind und dies auch ausstrahlen. Um mit unserem Selbst in Kontakt zu treten, müssen wir unseren Körper aktivieren. Wir können dies spüren, wenn wir beispielsweise singen und den Schwingungen in unserem Körper nachspüren, wenn wir achtsam barfuss (oder mit Zehensocken) gehen, wenn wir in einer Meditation sitzen und unserem Atem lauschen oder wenn wir von Hand schreiben und die Worte fliessen lassen ohne bewusst zu denken. Das Selbst ist aber schwer zu fassen. Man kann es nicht finden wie ein Osterei. Wenn das Selbst und der Körper aktiviert sind, dann erlebt ein Mensch sich als Einheit. Man fühlt sich mit sich selbst verbunden und steht in der eigenen Mitte. Das kann man nur FÜHLEN.

Wenn wir unsere innere Stimme hören und diese Klarheit irgendwann auch in Worte fassen können, dann hat sich unser Selbst schon sehr intensiv mit dem Verstand ausgetauscht. Das unbewusste Selbst allein verfügt nämlich über keine Sprache. Bis das Ganze in die Verstandessprache übersetzt ist, können Jahre vergehen. Diesen Prozess können wir nicht beschleunigen. Klarheit hat ihre eigene Zeit. Die gute Nachricht ist aber, dass wir diesen Prozess beharrlich am Laufen halten können.

Ganz oft hören wir unsere innere Stimme nicht, weil es im wahrsten Sinne des Wortes zu laut ist. Der Terminkalender ist voller Meetings, Tennis- und Klavierstunden der Kinder, eigener Sportaktivitäten, Vereinsversammlungen, Einladungen oder Therapiesitzungen. Viele Menschen spüren in dieser Überforderung, dass etwas nicht stimmt. Es ist zu viel. Viel zu viel. Wenn man es aber genau betrachtet, ist dieses «zu viel» schlicht und einfach ein zu wenig an «nichts».

Dieses «Nichts» ist eine andere Denkweise, es ist nicht der Raum, sondern das Dazwischen, also wieder ein Perspektivenwechsel (Teil 1 Auf leisen Pfoten). Diese Denkweise – der Zwischenraum – stammt aus Japan und spielt dort in vielen Lebensbereichen eine wichtige Rolle. Sei es das Ungesagte in einem Gespräch, die Pause zwischen der Ein- und der Ausatmung oder der Leerraum zwischen den Möbeln in einem Zimmer, all diese Zwischenräume machen das Ganze aus. Und wir vergessen sie oft, weil in unserer Kultur das, was ist, wichtiger ist als das, was nicht ist. Aber genau dort liegt der Schlüssel zu unserem Selbst, dem Raum zwischen Körper und Geist.

Das unbewusste Selbst beginnt zu arbeiten, wenn man zur Ruhe kommt und negative Gefühle zumindest gedämpft werden können. Das trübe Wasser muss erst einmal klar werden (Teil 2: Das Problem ist nie die Welt). Die Beruhigung kommt dann, wenn sich das Befinden im Körper ändert. Man kann sich nicht ruhig denken. Atmen ist da schon sehr viel zielführender. Und hier sind wir bei den Methoden, wie wir unser System beruhigen und die Präsenz vertiefen können. Ganz zuoberst steht wenig überraschend die Meditation. Vielen Menschen hilft aber auch das Schreiben, wohlgemerkt das Schreiben von Hand. Zweifellos mag es aber Menschen geben, die mit der Tastatur derart verbunden sind, dass dies keinen grossen Unterschied mehr macht. Ausprobieren lohnt sich aber vielleicht dennoch.

Das japanische Schriftzeichen für dem Zwischenraum (ma, s. Bild) enthält eine wunderbare Wegbeschreibung. Die Umrahmung aussen herum stellt ein Tor dar. Die Kästchen links und rechts mit dem verlängerten Strich sind die Torflügel und dazwischen steht das Viereck mit einem Querstrich, dem Zeichen für Sonne. Öffnet man das Tor und damit den Zwischenraum, können die Lichtstrahlen durchfliessen. Es braucht also beides: die Begrenzung und den Raum dazwischen, damit wir unsere innere Stimme hören können.

Wohin uns unsere innere Stimme führen kann, erfährst Du im nächsten und letzten Blog dieser Serie.

Präsenz entsteht durch Körperwahrnehmung (Reise in die Stille Teil 4)

Seit einiger Zeit trage ich Zehensocken. Weshalb? Um der altersbedingten Verformung des Körpers im Allgemeinen und speziell meiner Füsse vorzubeugen. Ich mag meine Füsse. Irgendwo muss man ja mal anfangen, seinen Körper zu mögen. Der Bauch bietet sich jenseits der Lebensmitte nicht so an, er ist eher etwas für Fortgeschrittene. Füsse haben etwas Neutrales, man kann sich ihnen freundlich annähern.

Seit ich diese Zehensocken trage fällt mir auf, dass ich bewusster gehe. Plötzlich spüre ich jeden einzelnen Zeh. Das ist interessant. Ich gehe auch langsamer. Dies wiederum hat zur Folge, dass ich mir mehr Zeit nehmen muss, um von A nach B zu kommen. Dies wiederum entspannt mich und mein Umfeld. Ich weiss, es gibt Menschen, die schätzen es nicht sehr, wenn ich auf den letzten Drücker zu einem Termin erscheine. Ich komme fast nie zu spät, ehrlich. Aber es will sich mir einfach nicht erschliessen, weshalb ich mich bereits Minuten, bevor der Zug einfährt, am Gleis einfinden soll. Zumal es in Bahnhöfen nie sonderlich angenehm riecht. Aber zurück zu den Zehensocken. Das Gehen fühlt sich anders an, irgendwie würdevoll. Diese Hetzerei hat etwas Entwürdigendes. Das fällt mir erst jetzt auf. Ich beobachte nämlich gerade, wie Kater Rumi über den Rasen schreitet. Er würde nie hetzen, ausser, wenn er sein Terrain verteidigt oder von einem Hund irritiert wird. Ansonsten geht er immer würdevoll.

Rumi kann das ohne Socken. Ich so langsam auch, weil ich gelernt habe, meine Füsse wahrzunehmen. Und diese Wahrnehmung des Körpers hat zur Folge, dass ich heute viel weniger als früher kopflos einer Möhre hinterherrenne. Jetzt fällt mir plötzlich die wunderschöne kleine gelbe Blume auf, die sich am Strassenrand durch den Beton befreit hat und nun in die Welt strahlt. Im unbewussten Zustand hätte ich sie – wie viele andere Wunder die in jedem Moment geschehen – nie wahrgenommen. Es geht also nicht darum, sich nicht zu bewegen, um zur Ruhe zu kommen, sondern schlicht und einfach darum, Ruhe in die Bewegung zu bringen.

Es ist kein Geheimnis. Körperwahrnehmung schafft Präsenz. Dies können wir vor allem in der Bewegung erfahren. Jede bewusste Bewegung verändert etwas. Ob wir am Stehpult arbeiten statt zu sitzen, zwischen zwei Besprechungen ein paar Liegestütze machen, eine Runde joggen oder eben ganz bewusst von A nach B gehen. Verändern wir etwas, statt in unseren Alltagsroutinen oder vor dem Bildschirm zwischen unseren Schultern zu versinken, werden wir aufmerksam. Und die Zeit wird vertikal. Wir können damit ganz bewusst schädliche Muster durch das Erlernen neuer Muster verdrängen. Und ganz besonders gut klappt das beim Erlernen neuer Bewegungsmuster.

Man kann diese Worte lesen oder hören, sie leuchten ein. Dennoch geschieht: nichts. Bevor ich begann, regelmässig zu meditieren, las ich unzählige Bücher über Meditation. Dennoch blieb ich immer wieder in dieser Lücke zwischen dem Wissen und dem Handeln hängen. Damit etwas geschieht, muss man es TUN. Dann beginnt man zu FÜHLEN. Und erst das Fühlen schafft die Präsenz.

Das Fühlen ist vielen von uns in unserem durchgetakteten Alltag ein bisschen abhanden gekommen. Dass zunehmend der Verstand das Zepter übernommen hat, ist aber nicht erst eine Nebenerscheinung unserer Leistungsgesellschaft. Diese Entwicklung geht auf die Aufklärung zurück. Das hat zweifellos zahlreiche Vorteile und es hat uns zumindest viel Wohlstand gebracht. Um zufrieden und zuversichtlich leben zu können, müssen wir aber in der Lage sein, etwas zu empfinden. Der reine Verstand, mit dem wir bisher versucht haben, besser, schneller, weiter und möglichst auch höher voranzukommen, führt uns vermutlich nicht dorthin, wo wir wirklich hinwollen. Wollen wir uns nicht selber verlieren, sollten wir uns auf den Weg machen, die Einheit von Denken, Fühlen und Handeln wiederzufinden.

Vielleicht sollten wir einfach in die Zeit zurückgehen, bevor uns das Leben dazwischenkam, zu unserem ursprünglichen Zustand und uns daran erinnern, was schon immer in uns war. Im Yoga kennen wir die «Happy Baby Pose». Schon einmal versucht? Einfach auf den Rücken legen, die Beine zur Brust ziehen, die Fussaussenkanten greifen und die Knie in Richtung Achselhöhlen bewegen. Am besten noch ein wenig hin- und herschaukeln und irgendwann bekommt man richtig Lust, vor Freude zu quietschen. Richtig: weil wir uns erinnern. Oder wie es bereits der Hypnotherapeut Milton Erickson ausdrückte: «Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben».

Unser Körper war ursprünglich mit unserem Gehirn unglaublich eng verbunden. Deshalb bietet der Körper auch einen besonders leichten Zugang zu allen Ebenen des Erlebens und Verhaltens, zu den im Gehirn abgespeicherten Sinneseindrücken und zu unseren frühen Erinnerungen (Quieetsch!). Viele Menschen finden deshalb auch wieder den Zugang zu sich selbst, wenn sie ihren Körper neu entdecken.

Veränderungen unserer Körperwahrnehmung spüren wir auf allen Ebenen unseres Seins. Bei dieser Verbindung spricht man auch von Embodiment. Wir verstehen die Welt durch unseren Körper. Wenn wir etwas verstanden haben, dann hat es Hand und Fuss. Wir gehen nicht einfach, sondern wir nehmen ganz bewusst die Verbindung zwischen unseren Füssen und dem Boden wahr (s. Teil 3, Die Lösung des Problems heisst Präsenz). Das sind die Momente, in denen wir ahnen, wie sich das Wahre anfühlen kann.

Wie können wir das Wahre nicht nur im Sinne einer Ahnung spüren, sondern auch erkennen? Das erfährst Du im nächsten Blog.

Die Lösung des Problems heisst Präsenz (Reise in die Stille Teil 3)

Einmal im Monat zelebriere ich einen Anfängerinnen-Tag. Ich tue alles, wie wenn ich es zum ersten Mal in meinem Leben tun würde. Diese Tage beginnen, indem ich nicht einfach aufstehe, Zähne putze und Wasser trinke ohne wirklich zu merken, was ich da tue. Diese Tage sind anders. Ich wache auf und strecke mich genüsslich im Bett. Manchmal denke ich in diesem Moment an meinen verstorbenen Vater. Wenn ich ihn fragte, wie es ihm geht, antwortete er oft: «Ich freue mich, dass ich auf der Welt bin und nicht runterfalle».

Ich stelle mir dann auch oft erst einmal die Frage, wie es mir geht. Die Antwort ist nicht immer ganz so einfach. Sich selbst kann man ja so eine Frage nicht einfach mit «gut» beantworten. Nach ein paar tiefen Atemzügen setze ich mich hin und setze die Füsse auf dem Boden auf. Ganz bewusst, so dass ich spüren kann, wie sich die Fussohle mit dem Boden verbindet. In der Küche bereite ich mir meinen Ingwer-Kurkuma-Tee zu. Das tue ich jeden Tag. Aber an diesen Tagen spüre ich bewusst die Beschaffenheit der Wurzeln. Und wenn ich sie sie reibe, nehme ich den scharf-süsslichen Geruch wahr. Sitze ich schliesslich mit dem fertig zubereiteten Tee am Küchentisch, ist erstaunlicherweise gar nicht viel mehr Zeit vergangen als an einem normalen Morgen, an dem dasselbe einfach geschieht. Aber es fühlt sich an, als wäre es fast schon Mittag.

Was geschieht, wenn wir im Hier und Jetzt sind? Die erste Wahrnehmung ist meistens, dass sich die Zeit verlangsamt. Es wird nicht mehr so schnell Ostern (s. Teil 2: Das Problem ist nie die Welt). Aber diese Vollbremsung ist natürlich nicht die einzige Folge der Präsenz.

Vor vielen Jahren absolvierte ich meine erste Yogalehrerinnenausbildung. Meine damalige Yogalehrerin beschloss fast jede Meditation mit der Aussage: im Hier und Jetzt ist alles gut. Es sollte viele weitere Jahre dauern, bis ich diese Aussage nur im Ansatz verstand. Bei den Buddhisten und bei den Stoikern findet man folgende Analogie, die mir dabei geholfen hat: Die Welt ist wie trübes Wasser. Um sie durchblicken zu können, müssen sich die Dinge erst einmal setzen.

Immer wieder heisst es in Meditationen: mach deinen Kopf leer oder: hör auf zu denken. Darum geht es gar nicht sondern darum, dass man in der Lage ist, die Gedanken zu lenken und nicht umgekehrt. Dazu muss man aber keine yogischen Schriften lesen, das steht bereits schon im Duden: Bewusstheit ist der Zustand geistiger Klarheit, voller Herrschaft über seine Sinne.

Schön, klingt nachvollziehbar. Wie kommen wir aber dorthin, in diesen Zustand, indem wir unseren Gedanken sagen, wo sie hinlaufen sollen und nicht die Gedanken uns? Entgegen aller Wohlfühl-Seminare muss man leider feststellen: Abschalten bringt hier gar nichts. Wir sollten eher einschalten.

Interessante Ansätze dazu finden sich im Zen-Buddhismus. Zen-Schülerinnen und Schüler bekommen Denkaufgaben (Koans), die rational nicht gelöst werden können. Zur Lösung dieser Aufgaben benötigt man einen radikal offenen Geist. Ein bekanntes Koan lautet: «Wie klingt es, wenn nur eine Hand klatscht?» So eine Frage lässt sich nicht so einfach beantworten, und genau darum geht es auch. Über so eine Frage müssen wir nachdenken, und zwar langsam. Manchmal tage-, wochen- oder auch jahrelang. Irgendwann kommt der Moment, indem alles klar ist, man weiss es. Eine grundlegende Wahrheit wird offensichtlich und unausweichlich. Dieser Zustand lässt sich nicht im Schleudergang erreichen.

Wie gehen wir nun vor? Als erstes geht es darum, dass das trübe Wasser klar wird. Dies geschieht in der Stille. Nur die Stille macht es möglich, dass sich der Schlamm setzt. Um in die Stille zu gehen, gibt es verschiedene Wege: die Natur, die Meditation, aber auch die bewusste Bewegung. Hat sich der Schlamm gesetzt, geht es darum, sich zu verlangsamen und nachzudenken, und zwar regelmässig.

Ich tue dies oft, indem ich für einen Moment die Gedanken unkontrolliert herumwandern lasse, ohne mich darin zu verstricken. So, wie wenn ich einen Film schauen würde. Zu Beginn kommt meistens ganz viel Alltag. Einkaufslisten, zu erledigende Mails, Sorgen. Man muss sich ein bisschen Zeit lassen, bis der Moment kommt, indem man etwas Interessantes entdeckt. Unglaublich, was da manchmal vermeintlich so aus dem Nichts auftaucht. Vor einigen Tagen sah ich plötzlich Bambi vorbeihüpfen. Und der kleine moppelige Hase Klopfer stand da, auf seinen Hinterpfoten. Es war vor sehr langer Zeit mein Lieblingsfilm. Und plötzlich spürte ich in meinem Inneren Antworten, die tief in meiner Kindheit versunken waren. Ich dachte sie nicht, ich spürte sie. Ich erinnerte mich. Und die Fragen dazu stellte ich mir schon lange. Ich hatte schon unendlich viele Morgenseiten gefüllt mit dem Versuch, sie zu beantworten. Schreiben ist im Übrigen ein wunderbarer Weg, das Denken zu verlangsamen.

Investieren wir Zeit und mentale Energie, finden wir nicht nur etwas, das für uns interessant ist. Wir finden auch das Wahre. Etwas, das wir bisher übersehen haben. Solche Perlen muss man aus der Tiefe heben.

Erinnerst Du Dich an den Perspektivenwechsel aus Teil 1 der Reise (Auf leisen Pfoten)? Das, was man tut, von innen her betrachten. Dieser neue Blickwinkel verändert die Wahrnehmung. Man schaut nicht von aussen auf etwas, sondern man nimmt die Beziehung zwischen den Dingen wahr. Wir schauen nicht, wie unsere Füsse auf dem Boden stehen, sondern wir nehmen ganz bewusst die Verbindung zwischen unseren Füssen und dem Boden wahr. Oder wir drehen das Ganze um und nehmen die Verbindung unserer Füsse mit der Luft wahr. Das wäre dann schon beinahe ein Koan.

Im nächsten Blog erfährst Du, weshalb Deine Füsse (aber nicht nur) der Anker für Deine Präsenz sind.

Das Problem ist nie die Welt (Reise in die Stille Teil 2)

Ein wunderschöner Spätsommertag. Ich sitze auf einer Bank in meinem Lieblingspark und schaue einem Entenpärchen zu, das gemütlich Richtung Fluss watschelt. Auf der Bank neben mir sitzen zwei Frauen. Ich gebe mir Mühe, ihrem Gespräch nicht zuzuhören und konzentriere mich auf die Enten. Doch in diesem Moment kann ich nicht anders.

«Machst Du Dir denn keine Sorgen?» «Weshalb sollte ich das tun? Wenn ich das Problem lösen kann, sind die Sorgen gänzlich sinnlos. Wenn ich es nicht lösen kann, erst recht. Weshalb sollte ich mir überhaupt Sorgen machen?»

Ich bin beeindruckt. So würde ich mir meine Reaktion wünschen, wenn ich mal wieder mit jemandem über mein Vorhaben diskutiere, mein Leben komplett auf den Kopf zu stellen (wohlwissend, dass das Leben stattfindet während man Pläne macht). Leider reagiere ich aber meistens nicht so souverän, sondern verstricke mich in irgendwelchen Rechtfertigungen, weshalb schon alles gut kommen wird und dass meine Risikoanalyse mich durchaus optimistisch stimmt, ich mir also keine Sorgen zu machen brauche. Schön wärs. Würde ich mir keine Sorgen machen, müsste ich mein Vorhaben nämlich nicht ständig erklären.

Was mich wirklich aber wirklich nachdenklich stimmt: eigentlich weiss ich es. Sich Sorgen zu machen ist eine sinnlose Gehirnaktivität. Ich habe keine Ahnung, wie etwas ausgeht, stelle mir aber sicherheitshalber schon einmal vor, dass es richtig schlimm werden wird. Klar ist es schön, wenn es dann nicht so kommt. Die Vorstellung dieses Schreckensszenarios ist aber ungefähr so sinnvoll, wie wenn ich eine Schmerztablette nehme bevor ich Kopfschmerzen bekomme. Mein Blick geht wieder zu den beiden Enten, die mittlerweile am Flussufer stehen. Die beiden fragen sich ja jetzt wahrscheinlich auch nicht, was sie machen, wenn sie im Fluss von einem Schwertwal angegriffen werden sollten.

Warum machen wir Menschen uns denn ständig Sorgen? Weil unser Gehirn dieses Spiel mit uns spielt, ständig. Und das hat seinen Grund. Unser Gehirn macht 2% unserer Körpermasse aus, verbraucht aber 20% aller Energie, die wir aufnehmen. Mein Gehirn wiegt also rund 1,3 kg, verbraucht aber täglich etwa 400 kcal (vorausgesetzt ich lasse die Finger von Nüssen und Schokolade, dann stimmt die Rechnung wohl nicht mehr ganz, aber das ist ein anderes Thema). Wie finden das wohl die anderen 61,7 kg von mir? Sie lassen es gelten, es ist zu ihrem Vorteil.

Unser Gehirn übernimmt nämlich eine ganz zentrale Funktion: es muss unser Überleben sichern. Und deshalb spart es Energie, wo es nur kann. Nicht, indem es aufhört zu denken, was man in manchen Lebenssituationen vermuten könnte. Aber es vereinfacht, verzerrt und entrümpelt, radikal. Ein grosses Sparpotential liegt in Vorurteilen. Der Mensch bewertet aufgrund dessen, was er bereits weiss und nicht aufgrund der sorgfältigen Analyse einer Situation. In der Politik ist das bekanntlich eine durchaus übliche Auffassung von Wahrheit. Dieses Verhalten ist aber nicht ein spezifisch politisches Merkmal. Es ist schlicht und einfach menschlich. Was wir als wahr zu erkennen glauben ist lediglich das, was am besten zu dem passt, wovon wir schon lange überzeugt sind. Unser Denken besteht also weitgehend aus Vereinfachungen, die unser Gehirn im Energiesparmodus produziert. Das ist ernüchternd.

Aber es ist noch nicht einmal alles. Das Gehirn ist täglich einer Unmenge von Reizen ausgesetzt, die es niemals alle verarbeiten kann. Müsste sich das Hirn um alle Details kümmern, würde ihm die Kapazität fehlen, sich mit den wirklich wichtigen Dingen zu beschäftigen. So werden sich wiederholende Abläufe zu festen Mustern und seltene oder nicht mehr gebrauchte Abläufe werden gestrichen. Und so plätschert das Leben vor sich hin. Je älter wir werden und je mehr wiederholende Abläufe unser Gehirn wahrnimmt desto mehr staunen wir, dass schon wieder Ostern ist. Und nein, es ist nicht so, dass die Zeit schneller vergeht. Wir erleben viele Augenblicke einfach nicht mehr voll präsent, sondern nebenbei, als Routine. Unser Gehirn schaltet auf Autopilot und nimmt viele Situationen, die sich wiederholen, nicht mehr bewusst wahr. Wir verpassen unser Leben.

Was das Gehirn uns als Wahrheit vorgaukelt baut auf Erinnerungen und Überzeugungen auf, die vielleicht schon längst nicht mehr aktuell sind. Wenn wir glauben, realistisch zu denken, haben wir immer schon vorab definiert, wie die Wirklichkeit zu sein hat. Wir sehen die Welt also nie wie sie ist, sondern wie wir sie aufgrund unserer Überzeugung kennen. Und genau so ist es auch mit all den Problemen, die wir mit uns herumtragen. Es sind Probleme, weil wir eine Situation aufgrund unserer Erfahrungen und Überzeugungen entsprechend bewerten. Und schon sind sie da, die Sorgen.

Wie können wir denn aber nun die Welt sehen, wie sie wirklich ist? In Selbsthilferatgebern ist die Antwort leicht zu finden: Achtsamkeit. Im Hier und Jetzt sein ohne zu bewerten. Auf dem Meditationskissen ist das einfach. Jedenfalls meistens. Wir konzentrieren uns auf den Atem und mit ein wenig Übung können wir mit diesem Anker immer ein wenig länger präsent bleiben. Aber wie macht man das im Alltag, wenn einem alles um die Ohren fliegt? Vielleicht sollten wir unser Denken verändern, indem wir uns nicht zwanghaft auf etwas konzentrieren, sondern indem wir beginnen, wahrzunehmen. Wir können unser Denken nicht nur auf Inhalte, sondern auch auf Stimmungen und Atmosphären ausrichten. Und wir können unseren Körper miteinbeziehen, mit allen Sinnen. Richtig, es geht um das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele. Ein Zusammenspiel, das uns allen in unserer Kindheit bestens vertraut war. Jetzt ist die Zeit, uns wieder zu erinnern.

In einem ersten Schritt können wir unsere Wahrnehmungsmuster verändern. Indem wir uns zum Beispiel Dinge notieren, auf die wir normalerweise nicht achten. Ich tue das immer wieder in langweiligen Sitzungen. Die Wassergläser sind nicht richtig sauber. Kollege A prüft zum fünften Mal die Fussballresultate auf seinem Handy. Kollegin M feilt unter dem Tisch die Fingernägel. Gerade so ergebnisbefreite Übungen können unsere mentalen Muster durchbrechen. Und genau darum geht es. Damit befreien wir unser Gehirn aus dem Energiesparmodus.

Und nun kommt der unangenehme Teil der Geschichte. Unsere mentalen Muster müssen wir immer wieder durchbrechen. Dazu gibt es viele Möglichkeiten. Das Üben hört nicht auf. Sonst ist ganz schnell wieder Ostern.

Magst Du mitkommen in die Welt der Wahrnehmung und der Präsenz? Im nächsten Blog geht die Reise weiter.

Auf leisen Pfoten (Reise in die Stille Teil 1)

Wie jeden Morgen rolle ich meine Matte aus und setzte mich in einen Fersensitz. Letzteres ist neu. Mitten in der Pandemie kam ich auf die Idee, für einen Marathon zu trainieren. Ich hatte die fixe Idee, dies noch vor meinem fünfzigsten Geburtstag tun zu müssen. Glücklicherweise war dies der einzige Punkt auf meiner «Bucket-List» der Lebensmitte und mein Knie reagierte überdeutlich auf diesen unsinnigen Plan. Wahrscheinlich wäre es klug gewesen, nicht erst mit neunundvierzig Jahren auf diese Idee zu kommen. Oder überhaupt nicht.

Ich sitze nun also nicht mehr im Schneidersitz sondern im Fersensitz auf der Matte, erhöht auf einem dicken Kissen. Das ist ungewohnt, aber entspannt. Es lässt mich fühlen und ich muss nicht überlegen, wie ich mein beleidigtes Knie im Schneidersitz lagern soll, damit es nicht schmerzt. Richtig, das hört sich selbstverständlich an. Ich habe aber wochenlang gebraucht, mich nicht mehr gegen diese Verletzung zu stemmen sondern sie zu akzeptieren. Zu akzeptieren, dass auch mein Körper verletzlich ist. Mein Körper, den ich seit Jahren intensiv trainiere, damit er mich verlässlich trägt. Das war die Idee. Aber irgendwie scheine ich dabei vergessen zu haben, dass ich älter werde. Und dass Geist und Seele auch noch ein Wörtchen mitzureden haben mit dem Körper.

Ich trainiere regelmässig. Immer noch. Krafttraining macht etwas mit mir. Es macht mich ruhig. So war denn auch in meiner Yogapraxis jahrelang mein Sankalpa (meine Absicht): «Finde Stille in der Kraft». Spätestens jetzt im Fersensitz werde ich den Verdacht nicht los, dass das nicht meine wahre Kraft ist, was ich da spüre. Irgendwie ist es ähnlich wie in meinem Job. Ganz viel Wissen, Kompetenz und Perfektion verschaffen Sicherheit. Vermeintliche Sicherheit. Vermeintliche Kraft. Und jetzt? Akzeptierte Verletzlichkeit. Immerhin, das scheint mir ein Anfang zu sein.

Was bedeutet wahre Kraft? Ich schaue von meinem Hochsitz auf der Matte aus dem Fenster und beobachte meinen Kater Rumi, wie er in seinem Körbchen liegt und sich hingebungsvoll putzt. Ganz bei sich, selbstvergessen, voll und ganz. Er konzentriert sich auf seine weisse Pfote, die er seit Minuten genüsslich abschleckt, Millimeter für Millimeter. Ich schätze, es wird noch eine kleine Ewigkeit dauern, bis die zweite Pfote dran ist. Aber das überlegt er sich natürlich nicht. Er hat keine To-Do Liste, der Glückliche. Er geht gerade in seiner Pfote auf, jetzt.

Ich bin neidisch. Bei mir funktioniert das so nicht. Ich bin ja auch keine Katze. Aber ich habe eine Idee, wie ich dort hinkomme, in diese Katzenwelt. Um im Hier und Jetzt zu sein, brauche ich einen Ort, von dem aus ich mich selbst beobachten kann. Aber wo ist dieser Ort? Man kann den Kopf ja nicht vom Kopf aus beobachten. In diesem Moment wird mir klar, dass wahre Kraft woanders herkommt. Sie kommt nicht von aussen und sie kommt auch nicht aus der Ruhe. Sie kommt aus der Stille. Und dazu braucht es einen anderen Blickwinkel. Man muss das, was man tut, von innen her betrachten. Es geht darum, zu erfahren, und nicht zu viel zu denken. Es geht darum, nicht durch andere und anderes zu leben.

Ich glaube, die Aufgabe auf der anderen Seite der Lebensmitte besteht weniger darin, diesen Marathon zu laufen, viel eher geht es darum, das eigene wahre Wesen kennenzulernen und sich von alten Mustern und Prägungen zu befreien. Es geht darum, bewusst und bedingungslos frei von äusseren Umständen zu leben und vor allem zu lieben und damit die Achtsamkeit für das zu fördern, was wirklich Sinn macht im eigenen Leben. Und ich bin mir sicher, dass der Weg dorthin in die Stille führt. So hat auch mein Sankalpa einen neuen Blickwinkel: «Finde Kraft in der Stille». Wahre Kraft. Manchmal muss man Umwege (nicht unbedingt einen Marathon!) gehen im Leben, aber diese erhöhen ja bekanntlich die Ortskenntnis. Und diese Kenntnisse möchte ich hier gerne mit Dir teilen.

Wege in die Stille sind sehr individuell. Dennoch glaube ich, dass es Stationen auf der Reise gibt, die zumindest den Weg ebnen. Ich habe dazu fünf Thesen:

These 1: Das Problem ist nie die Welt, sondern wie wir die Welt sehen.

These 2: Die Lösung des Problems heisst Präsenz.

These 3: Präsenz entsteht durch Körperwahrnehmung.

These 4: In der Präsenz hören wir unsere innere Stimme.

These 5: Die innere Stimme schafft Klarheit und Vertrauen.

Magst Du mitkommen auf die Reise? Dann lade ich Dich ein, in den nächsten Wochen erste Einblicke in diese fünf Schritte zu bekommen.

In einer kleinen Blog-Reihe werde ich Dir die Türen zu dieser Welt ein wenig öffnen und Du wirst erfahren, wie Du Dir mit ersten kleinen Schritten im Alltag Deinen Raum für Stille schaffen kannst.

Ich freue mich auf Dich. Lass uns gemeinsam diese Welt hinter den Dingen entdecken.

Das Buch dazu ist im Entstehen…