Das spanische Häuschen muss dringend renoviert werden, und zwar derart, dass wir vorübergehend ausziehen müssen. Bekanntlich weiss man die Dinge des Alltags wieder so richtig zu schätzen, wenn sie einem – und sei es nur kurzfristig – abhanden kommen.
Ich habe das spanische Häuschen immer sehr geschätzt, aber wie sehr, wird mir erst jetzt bewusst. Ich wohne gerade in der Parallelstrasse in einer Unterkunft, deren liebloser touristischer Vermietungscharme mein ästhetisches Wohlbefinden strapaziert und mich aus jeglichem Takt bringt. Auch aus meinem Schreibtakt. Aber wenn ich schon nicht schreibe, habe ich Zeit für andere Dinge.
Manchmal klettere ich auf das Hausdach. Von hier aus kann ich unser Häuschen immerhin noch sehen. Und habe Heimweh. Ich vermisse Mike, den Vogel aus unserer Nachbarschaft, der zuverlässig zur Apérozeit die Titelmelodie von Star Wars pfeift (wer mehr über Mike wissen möchte, kann hier weiterlesen). Von hier aus kann ich Mike nur bei idealer Windlage und nur ganz leise hören. Dafür wohnt nebenan Ron, ein grosser brauner Mischlingshund, der fast den ganzen Tag allein gelassen wird und herzzerreissend jault. Oder er macht Geräusche wie ein Schimpanse, so eine Mischung zwischen Grunzen, Rufen, Kreischen und Wimmern. Bei Ron ist den ganzen Tag Apérozeit.
Mindestens einmal am Tag laufe ich zur Baustelle, um abzuschätzen, wann wir wieder einziehen können. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich dort meinen spanischen Nachbarn treffe und mich mit ihm unterhalten kann. Das tue ich natürlich auch sonst, aber gerade jetzt etwas häufiger, da auch er renoviert. Kürzlich fuhr er mir mit einem kleinen Gabelstapler entgegen und fragte mich gut gelaunt, ob ich etwas bräuchte, er könnte es – was es auch immer sei – gerade anliefern. Ich lehnte dankend ab, versicherte ihm aber, dass ihm der Gabelstapler richtig gut stehe. Er strahlte mich aus seiner tiefsten Kinderseele zustimmend an.
Baumassnahmen haben eine grundsätzlich verstörende Wirkung auf einen ansonsten friedlichen Alltag. Neben der gemeinsamen Mauer und der Abstimmung der gegenseitigen Lärmemissionen sind sie aber ein guter Anlass, über das Leben zu philosophieren. Mein spanischer Nachbar verabschiedet sich gerade aus einem offenkundig umtriebigen Berufsleben, indem er die gesamte Region mit Baumaterialien versorgt hatte. Dennoch – oder gerade deshalb – strahlt er eine Bescheidenheit und Zufriedenheit aus, die mich immer wieder einnimmt.
Kürzlich sassen wir bei einem Kaffee in der kleinen Dorfbäckerei, die seit vielen Generationen von derselben Familie geführt wird. Mit grosser Hingabe und Zukunftshoffnung eröffnen die beiden jungen Brüder immer grössere Geschäfte in der Gegend. Mit einem milden Lächeln meinte mein spanischer Nachbar dazu: „Sie sind noch jung, da hat man noch Träume und Energie. Für mich reichen pan, agua y sal, y està.“ Er sprach mir aus dem Herzen. Besser kann man ein einfaches Leben nicht beschreiben.
Den Wunsch nach einem einfach Leben hatte ich schon immer. Als Kind träumte ich oft davon, meinen kleinen Besitz in einen einzigen Koffer zu packen und in meinem Leben nie mehr Dinge anzuhäufen, als in den Koffer passen würden. Das ist mir nicht ganz gelungen, wie mir mein letzter Umzug vor Augen führte. Losgelassen hat mich dieser Traum aber nie und in den letzten Jahren wurde er laut. Irgendetwas war geschehen, aber was?
Meine Lesewege haben mich in den vergangenen Monaten durch zahlreiche Bücher über die Lebensmitte und Lebensübergänge geführt. Die beruhigende Erkenntnis vorweg: es ist keine Schwermut, sondern der ganz normale Lauf der Dinge, sich an einem Punkt im Leben, indem sich schon einiges an gelebtem Leben angesammelt hat, zu fragen, ob das Leben, das man führt, noch immer zu einem passt. Die eigene Endlichkeit macht sich bemerkbar.
Verändert sich jenseits der Lebensmitte die Grundstimmung deshalb, weil man sich seiner Endlichkeit bewusst wird und die Vorstellung des eigenen Todes etwas sehr Verstörendes an sich hat? Ich habe wenig klare Erinnerungen an meine Kindheit, zumal man ja ohnehin nie so genau weiss, was bzw. welche Version man als Erinnerung abgespeichert hat (hier mehr dazu, weshalb man Erinnerungen gegenüber grundsätzlich misstrauisch sein sollte). Sehr genau kann ich mich (neben dem Koffer) aber an Folgendes erinnern: Ich lag im Bett meines Kinderzimmers, es war kurz vor dem Einschlafen und wie aus dem Nichts wurde mir plötzlich klar, dass ich irgendwann nicht mehr sein würde. Ich sah etwas vor mir, das aussah wie das Universum mit unendlich vielen Sternen und gleichzeitig fühlte ich, wie ich mich in diesem Universum auflöste. Es fühlte sich aber alles andere als angenehm an, eher so, als hätte ich einen Dementoren gestreift (und das war sehr lange Zeit vor Harry Potter).
Heute ist es nicht so sehr der Gedanke an den Tod der mich verstört, sondern eher der Gedanke an das Sterben an sich. Aber auch das scheint eine gängige Gefühlslage in einem Alter zu sein, in dem man leider immer öfter mit dem Sterben im Familien- und Bekanntenkreis konfrontiert wird. An dieser gängigen Gefühlslage erfreut sich auch die boomende Langlebigkeitsforschung und -industrie. Deren Erkenntnisse und Produkte basieren in den meisten Fällen auf der Forschung an Ratten und Mäusen, aber wenn es um die eigene Endlichkeit geht, scheint man da grosszügiger zu sein mit dem Glauben an die Wirksamkeit.
Gleichzeitig wird mit etwas gelebtem Leben im Rucksack aber klar, dass der Tod alternativlos ist. Das sagt zumindest bisher auch die aktuelle Langlebigkeitsforschung. Wer sich mit dem Gedanken der Unsterblichkeit einmal intensiv befassen möchte, dem sei der Roman „Alle Menschen sind sterblich“ von Simone de Beauvoir empfohlen. Es ist die Geschichte von Raymond Fosca, der im späten Mittelalter unbedacht ein Elixier trank, das ihn unsterblich machte. Seither streift er durch die Jahrhunderte, belastet mit einem Fluch, der nie enden wird. Wenn man die Geschichte des zunehmend einsamen, verlorenen und frustrierten Mannes über fast 500 Seiten hinweg verfolgt, ist die Vorstellung eines unsterblichen Lebens irgendwann nur noch leer, ermüdend und gruselig.
Die Endlichkeit unseres Lebens bringt das Gefühl einer gewissen Dringlichkeit mit sich. Das Leben ist bekanntlich kurz. Im Durchschnitt dauert es 4000 Wochen oder 1.5 Milliarden Herzschläge. Letzteres gilt für die meisten Lebewesen. Das Herz eines Eichhörnchens schlägt einfach etwas schneller als dasjenige eines Blauwals. Dass die gefühlte Dringlichkeit mitunter auch dazu führt, dass wir uns von den für uns wichtigen Dingen unbewusst drücken, indem wir uns mit Unwichtigem beschäftigen, darüber habe ich andernorts bereits geschrieben. Auch geht die Dringlichkeit irgendwann mit der Erkenntnis einher, einfach nicht alles haben zu können. Persönlich finde ich das tröstlich. Jede Entscheidung für etwas und damit gegen etwas anderes entlastet.
Mittlerweile denke ich aber, der eigentliche Punkt, der zumindest mich umtreibt war und ist ein ganz anderer. Nämlich die Frage, wie ich mein Leben lebe. Mache ich wirklich, was mir wichtig ist oder werde ich irgendwie um mein Leben betrogen? Betrüge ich mich selber? Sich diesen Fragen zu stellen, ist mitunter ein jahrelanger Prozess und von zahlreichen inneren „dafür habe ich keine Zeit“ und „das geht nicht weil…“ -Dialogen begleitet. Und oft weiss man gar nicht so genau, was einem wirklich wichtig ist. Sowas formt sich ja nicht allein im Kopf. Ob der Buchladen von dem man insgeheim träumt, das Engagement in einem Krankenhaus in einem fernen Land, die Arbeit in einem Tierheim, das Schreiben, das Malen, oder welcher tiefe Wunsch auch immer in einem schlummert, das Richtige sein wird, das muss man erfahren. Man kann es nicht wissen. Aber man kann sich herantasten.
Meiner Erfahrung nach lösen sich langanhaltende Wünsche nicht in Luft auf, wenn man sich ihnen nicht zumindest nähert. Und der Umstand, sterblich zu sein, ist eine grossartige Chance herauszufinden, was einem im Leben wirklich wichtig ist. Dabei ist es ziemlich unerheblich, was im Leben noch möglich sein soll. Es ist die einfache Alltäglichkeit, die ein Leben zu einem erfüllten Leben macht. Deshalb kann ich dem Konzept von „pan, agua y sal, y està“ nichts mehr hinzufügen.
Wer sich weiter in die Tiefen der Lebensmitte und darüber hinaus begeben möchte, dem seien die folgenden Werke empfohlen:
- Barbara Bleisch, Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre, Hanser Verlag, 2024
- Miranda July, Auf allen vieren, Kiepenheuer & Witsch, 2024
- Katja Oskamp, Marzahn, von amour: Geschichten einer Fusspflegerin, Hanser Verlag 2019
- Simone de Beauvoir, Alle Menschen sind sterblich, Rowohlt Taschenbuch 1975

Liebe Marion,
Dein wunderschöner Text spricht mir aus der Seele, die Gedanken rund um ein individuell stimmiges und erfülltes Leben als auch Deine herrlichen Spanien-Beschreibungen! . Ich vermute, es ist kein Zufall, dass wir uns beim Schreiben trafen!;-)
Vielen Dank, das Lesen war mir eine Freude!
Lisa
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Liebe Lisa, ganz herzlichen Dank, das freut mich sehr! Ich bin mir sicher, Du vermutest richtig 😉
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