Irgendwas das bleibt

Der Herbst ist da. Aus ayurvedischer Sicht beginnt nun die Vata-Zeit, die Wind, Dynamik und kreisende Gedanken mit sich bringt. Eine Jahreszeit, die uns auf ihre ganz besondere Weise mahnt, zur Ruhe zu kommen. Kaum jemand hat diesen Jahreszeitenwechsel eindrücklicher eingefangen, als Rainer Maria Rilke in seinem «Herbsttag»:

Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Ja, dieser Sommer war tatsächlich sehr gross. Für mich persönlich war er vor allem sehr umtriebig. Kaum ein Stein blieb auf dem anderen. Ich bin aus dem Hamsterrad ausgestiegen und hatte eigentlich vor, mich erst einmal auf eine Schaukel zu setzen. Ab und zu klappte das tatsächlich für einen kurzen Moment. Doch dann haben mich die Tücken der Auswanderung, meine innere Unruhe, Krankheiten und deren Folgen in der Familie oder kurzgesagt einfach das Leben eingeholt.

Die Winde jagen also schon seit geraumer Zeit durch mein Leben. So weit, so normal. Das gab es auch schon in der Hamsterrad-Zeit, in der morgens um fünf Uhr der Wecker klingelte. Seit ich mich aber ab und zu auf der Schaukel wiederfinde, geschieht etwas Interessantes. Ich versuche nicht mehr loszulassen, was ich als unwillkommen identifiziere (administrative Zumutungen, neue Verpflichtungen, eigene Schatten, die mir plötzlich bewusst werden, schädliche Glaubenssätze), sondern alles in mich hereinzulassen. Wenn ich meine Energie nun nicht mehr dafür aufbringen muss, meine Widerstände gegen all diese ungebetenen Irritationen aufrechtzuerhalten stellt sich eine ungewohnte Ruhe ein und vor allem ein untrügliches Gefühl, dass alles gut ist. Hört sich kitschig an? Mag sein. Ist aber grossartig und nennt sich Urvertrauen. Und woher ich weiss, dass es das ist? Weil es schon immer da war. Auf der Schaukel konnte ich mich endlich wieder erinnern.

Als Kind hatte ich dieses Gefühl oft, wenn ich auch keine Ahnung habe, woher. Mein damaliges Zuhause würde ich jedenfalls nicht als das geborgene Nest bezeichnen, das gemeinhin als wichtige Voraussetzung gilt, damit Urvertrauen überhaupt entstehen kann. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass meine negativen Erinnerungen noch ein wenig lauter sind als die positiven. Erinnerungen führen ja bekanntlich ein Eigenleben. Für die leisen Töne muss ich wohl noch ein wenig mehr schaukeln.

Und jetzt kommt die für mich wichtigste Erkenntnis dieser Umkehr von Hereinlassen statt Loslassen. Diese Opferschleife mit der schweren Kindheit bin ich jetzt leid. Dieses wenig hilfreiche Gefühl, als Kind um irgendetwas gebracht worden zu sein, nervt nur noch. Ja, ich musste immer selber für alles Mögliche schauen und ja, mir wurde nichts in die Wiege gelegt. Wie auch, ich hatte gar keine. Und genau das ist mein grosses Geschenk. Ich trage nämlich nichts mit mir herum, das nicht meins ist, ausser meinen Glaubenssätzen. Die kenne ich mittlerweile so gut, dass ich sie freundlich in meine Schattenfamilie aufgenommen habe.

Bekanntlich ist es nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben. Und damit ist es nun Zeit für den schweren Wein. Und in dessen Begleitung werde ich an windigen Abenden lesen und schreiben, auch wenn ich ein gemütliches kleines Dach über dem Kopf habe. In diesem Punkt muss ich Rainer Maria Rilke ein klein wenig widersprechen.

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