Stell Dir vor, Du fällst zwischen zwei Gedanken

Ich weiss nicht mehr genau, wie wir Schreibfreundinnen auf dieses Thema gekommen sind, fürchte aber, dass ich daran nicht ganz unbeteiligt war. Zwischenräume faszinieren mich seit langer Zeit und ich habe auch schon dazu geschrieben. Ich wecke nun aber den Anfängerinnengeist in mir und schreibe drauflos, was mir dazu einfällt.

Plopp, und alles ist still. Ein ewiger Augenblick. Der Raum zwischen zwei Gedanken bedeutet für mich vor allem Stille. Wie der Moment zwischen dem Ein- und dem Ausatmen so ist auch der Moment zwischen zwei Gedanken für mich der Moment der absoluten Stille, in der das Suchen aufhört. Reines Bewusstsein. Dieses Paradies gibt es bisher leider nur in meiner Vorstellung. Ich warte schon lange darauf, dass ich dort hineinfalle. Genauer gesagt anlässlich jeder Meditation und somit jeden Tag. Und das ist wohl genau das Problem. Das Warten.

Ich warte sehr ungern, weil ich dabei immer das Gefühl habe, dass mir jemand meine Zeit klaut. Mein Mann ist da ganz anders. Er legt Wert darauf, möglichst frühzeitig an einem Bahngleis oder am Flughafen zu sein, was regelmässig zu kleinen Erschütterungen in unserer ansonsten durchaus friedvollen Ehe führt. Ich sehe nämlich nicht ein, weshalb ich unnötig lange an einem zugigen Bahngleis in einer ungünstigen Geruchssituation warten soll, wo ich doch genau weiss, dass der Zug erst in zehn Minuten fährt. Seit ich in Deutschland lebe sind diese zehn Minuten zudem deutlich länger geworden.

Ein Ereignis vor Jahren hat mich meine Haltung allerdings überdenken lassen. Anlässlich eines Fluges nach New York sassen mein Mann und ich fast zwei Stunden vor Abflug am Gate. Wir waren die einzigen Passagiere, die bereits warteten und ich übte mich im mich Nicht-Beschweren. Meine Übung wurde unterbrochen durch eine Mitarbeiterin der Fluggesellschaft, die uns fragte, ob wir etwas dagegen hätten, erste Klasse zu fliegen, weil die Economy Klasse überbucht sei. Seit diesem ersten und wohl auch letzten Flug im Liegen mit einem gefühlten 10-Gang Menü, bei den ich übrigens auch gelernt habe, dass man verschütteten Rotwein mit Weisswein wieder aus einer beigen Hose entfernen kann, hat das Warten für mich auch eine interessante Seite.

Begegne ich dem Warten nun mit einer neutralen Haltung, ist der Moment zwischen zwei Gedanken wie das Warten auf Nichts.

Gibt es das überhaupt? Warten auf Nichts? Ist warten nicht zwangsläufig mit einer Erwartung verknüpft? Diese Frage ist wie ein Koan aus dem Zen. Diese Rätsel machen mich nervös, weil ich genau weiss, wie man sie nicht beantworten kann. Mit dem Verstand. Ich kann dennoch nicht widerstehen, weil ich finde, dass ein kleiner Blick in die Sprachgeschichte hier durchaus erhellend ist.

Bis etwa ins 14. Jahrhundert bedeutete warten, «seinen Blick auf etwas richten» oder «seine Aufmerksamkeit worauf richten»1. Bildlich gesprochen ist das ja heute noch so. Beobachtet man wartende Menschen (zum Beispiel an einem Bahngleis oder an einem Gate am Flughafen), so wird man kaum jemanden sehen, der nicht auf sein Smartphone starrt. Leider ist dies aber nur ein Zeichen dafür, dass sich Lebenszeit in Ungeduld auflöst. Heute wird Warten meist als verlorene Zeit verstanden und man hofft, sie im Smartphone wiederzufinden. Warten, wie wir es heute verstehen, ging aus der Vorstellung hervor, jemandem oder etwas entgegenzusehen. Man erwartete das, worauf man blickte und hoffte, dass es eintritt oder eben nicht. Kaum zufällig wird im Spanischen für warten und hoffen dasselbe Verb verwendet: esperar.

Es ist also erst die Erwartung, die sich aus diesem Hoffen ergibt, die das Warten mit Inhalt füllt. Unser Bedürfnis, alles mit Inhalt zu füllen gilt leider auch für das Warten. Das Warten führt in der Regel zu einer Ungeduld, die mich vom Jetzt wegtreibt um endlich woanders zu sein. Wobei es oft ein Rätsel bleibt, weshalb man jetzt woanders sein müsste. Das kann man wunderbar testen, indem man sich in einem ruhigen Raum hinsetzt und nichts tut. Wirklich nichts. Nicht mal meditieren. Zumindest die ersten Minuten will man ja immer woanders sein.

Es wäre also einen Versuch wert, ohne Erwartung zu warten, sofern man zwischen zwei Gedanken fallen möchte. Dafür gibt es eine Möglichkeit. Wir müssten unser Verhältnis zur Zeit überdenken oder eher überfühlen. Solange wir die Zeit als Dauer begreifen, werden wir das erwartungsvolle Warten wohl nicht los. Wir müssten stattdessen einfach interessiert beobachten und unseren Blick von allen berechnenden und leistungsorientierten Tätigkeiten abwenden und ihn direkt neben uns nach aussen oder nach innen wenden. Vertrau dem Prozess und vergiss das Ergebnis. Bis ich dauerhaft in dieses Paradies komme, übe ich mich weiterhin im mich Nicht-Beschweren. Ohne auf den erste Klasse-Flug zu warten, ich weiss ja jetzt wie das geht mit dem Rotwein.

1 Timo Reuter, Warten. Eine verlernte Kunst, Westend Verlag, Frankfurt a.M. 2023, S. 34.

Willst Du wissen, wie sich die anderen Schreibfreundinnen in ihren Zwischenräumen fühlen? Dann komm lesen:

Susanne

Alexandra

Christine

Evelyne

Claudia