Kater Rumi, mein Reisebegleiter in die Stille, ist bekanntlich mein grosses Vorbild. Meistens. Heute fordert er mich gerade heraus. Er hat gekotzt. Das ist für Katzen nicht ungewöhnlich und auch weiter nicht schlimm. Aber er hat herzhaft auf mein Meditationskissen gekotzt. Es gibt Grenzen, wirklich. Eigentlich würde ich von mir zumindest Fassungslosigkeit erwarten. Ich bin aber ganz ruhig und putze das übel riechende Häufen tiefenentspannt weg.
Diese Ruhe hat einen Grund: Klarheit. Ich habe eine Frage aus der Kategorie «Soll ich bleiben oder gehen?» nach langer Zeit abschliessend beantworten können. Und hier kommt der kleine Reisebericht:
Im Alltag gehen wir davon aus, dass für das Verstehen allein der Verstand zuständig ist. Im letzten Blog (Teil 4: Präsenz entsteht durch Körperwahrnehmung) haben wir aber gesehen, dass wir die Welt nur durch unseren Körper verstehen können. Bevor der Verstand etwas entziffern kann, ist immer zuerst der Körper im Spiel. Wir spüren einen Klos im Hals, ein Loch im Bauch oder ein Klopfen im Herzen. Oder wir spüren eben eine tiefe innere Ruhe, dieses Gefühl, angekommen zu sein. Es ist der Moment der Klarheit, indem man es einfach weiss. Man weiss, ob man kündigen oder im Job aushalten soll wegen der Sicherheit. Man weiss, ob man sich scheiden lassen oder der Ehe nochmals eine Chance geben soll. Man weiss, ob man umziehen oder im gewohnten Umfeld bleiben soll. Einer solchen Klarheit gehen oftmals jahrelange zermürbende Lebensphasen voraus, die einem den Schlaf rauben.
Die Klarheit ist eine Gewissheit, die man fühlt, man denkt sie nicht. Aber man kann sie hören. Wir sprechen dann auch davon, dass wir unsere innere Stimme hören. Aber was ist das genau, was wir da hören? Es ist etwas, das schon immer da war. Es ist ein Raum zwischen Körper und Geist. Man kann ihn als das unbewusste Selbst bezeichnen.
In unserem Gehirn lässt sich der bewusste Verstand im Cortex direkt hinter der Stirn verorten. Der Verstand kann immer nur eines nach dem anderen verarbeiten. Erstaunlicherweise gibt es nach wie vor Menschen, die behaupten von sich, «multitasking» zu sein. Was auch immer diese Menschen da tun, denken ist es jedenfalls nicht, man kann nicht zwei Gedanken gleichzeitig denken. Ganz anders ist dies beim unbewussten Selbst. Unser unbewusstes System arbeitet nicht nur sehr schnell, sondern auch noch parallel. Es hat die Aufgabe, uns möglichst sicher durchs Leben zu führen und im Zweifel dem Säbelzahntiger davonzurennen. Das unbewusste Selbst ist im evolutionsbiologisch sehr alten limbischen System zu verorten, das für Gefühle zuständig ist.
Was ist aber nun dieses Selbst, das zu uns spricht? Man kann es bei anderen Menschen erkennen. Es sind Menschen, die in sich ruhen, einfach ganz sie selbst sind und dies auch ausstrahlen. Um mit unserem Selbst in Kontakt zu treten, müssen wir unseren Körper aktivieren. Wir können dies spüren, wenn wir beispielsweise singen und den Schwingungen in unserem Körper nachspüren, wenn wir achtsam barfuss (oder mit Zehensocken) gehen, wenn wir in einer Meditation sitzen und unserem Atem lauschen oder wenn wir von Hand schreiben und die Worte fliessen lassen ohne bewusst zu denken. Das Selbst ist aber schwer zu fassen. Man kann es nicht finden wie ein Osterei. Wenn das Selbst und der Körper aktiviert sind, dann erlebt ein Mensch sich als Einheit. Man fühlt sich mit sich selbst verbunden und steht in der eigenen Mitte. Das kann man nur FÜHLEN.
Wenn wir unsere innere Stimme hören und diese Klarheit irgendwann auch in Worte fassen können, dann hat sich unser Selbst schon sehr intensiv mit dem Verstand ausgetauscht. Das unbewusste Selbst allein verfügt nämlich über keine Sprache. Bis das Ganze in die Verstandessprache übersetzt ist, können Jahre vergehen. Diesen Prozess können wir nicht beschleunigen. Klarheit hat ihre eigene Zeit. Die gute Nachricht ist aber, dass wir diesen Prozess beharrlich am Laufen halten können.
Ganz oft hören wir unsere innere Stimme nicht, weil es im wahrsten Sinne des Wortes zu laut ist. Der Terminkalender ist voller Meetings, Tennis- und Klavierstunden der Kinder, eigener Sportaktivitäten, Vereinsversammlungen, Einladungen oder Therapiesitzungen. Viele Menschen spüren in dieser Überforderung, dass etwas nicht stimmt. Es ist zu viel. Viel zu viel. Wenn man es aber genau betrachtet, ist dieses «zu viel» schlicht und einfach ein zu wenig an «nichts».
Dieses «Nichts» ist eine andere Denkweise, es ist nicht der Raum, sondern das Dazwischen, also wieder ein Perspektivenwechsel (Teil 1 Auf leisen Pfoten). Diese Denkweise – der Zwischenraum – stammt aus Japan und spielt dort in vielen Lebensbereichen eine wichtige Rolle. Sei es das Ungesagte in einem Gespräch, die Pause zwischen der Ein- und der Ausatmung oder der Leerraum zwischen den Möbeln in einem Zimmer, all diese Zwischenräume machen das Ganze aus. Und wir vergessen sie oft, weil in unserer Kultur das, was ist, wichtiger ist als das, was nicht ist. Aber genau dort liegt der Schlüssel zu unserem Selbst, dem Raum zwischen Körper und Geist.
Das unbewusste Selbst beginnt zu arbeiten, wenn man zur Ruhe kommt und negative Gefühle zumindest gedämpft werden können. Das trübe Wasser muss erst einmal klar werden (Teil 2: Das Problem ist nie die Welt). Die Beruhigung kommt dann, wenn sich das Befinden im Körper ändert. Man kann sich nicht ruhig denken. Atmen ist da schon sehr viel zielführender. Und hier sind wir bei den Methoden, wie wir unser System beruhigen und die Präsenz vertiefen können. Ganz zuoberst steht wenig überraschend die Meditation. Vielen Menschen hilft aber auch das Schreiben, wohlgemerkt das Schreiben von Hand. Zweifellos mag es aber Menschen geben, die mit der Tastatur derart verbunden sind, dass dies keinen grossen Unterschied mehr macht. Ausprobieren lohnt sich aber vielleicht dennoch.
Das japanische Schriftzeichen für dem Zwischenraum (ma, s. Bild) enthält eine wunderbare Wegbeschreibung. Die Umrahmung aussen herum stellt ein Tor dar. Die Kästchen links und rechts mit dem verlängerten Strich sind die Torflügel und dazwischen steht das Viereck mit einem Querstrich, dem Zeichen für Sonne. Öffnet man das Tor und damit den Zwischenraum, können die Lichtstrahlen durchfliessen. Es braucht also beides: die Begrenzung und den Raum dazwischen, damit wir unsere innere Stimme hören können.
Wohin uns unsere innere Stimme führen kann, erfährst Du im nächsten und letzten Blog dieser Serie.