In die Zeit fallen

Kürzlich sass ich am frühen Abend in meiner Lieblingsstrandbar und schaute aufs Meer hinaus. Es war diese für mich magische Tageszeit, in der die milder werdende Sonne die Landschaft in ein ebenso klares wie sanftes Licht taucht. Ich beobachtete die Seeschwalben, wie sie über dem Meer kreisten und sich in einem scheinbar unerwarteten Moment wie ein Pfeil ins Meer stürzten. Eine äusserst beeindruckende Angeltechnik. 

Dieser rasante Sturzflug der Seeschwalben ist für mich ein schönes Bild für den richtigen Augenblick. Diesen habe ich beim Fotografieren leider nicht erwischt, deshalb ist die Seeschwalbe noch in der Luft. So oft im Leben wünschen wir uns dieses Gespür für den richtigen Moment. Bloss wie finden wir ihn, zwischen planen, warten, überlegen, abwägen und…. vorbei ist er.

Vielleicht können uns hier die griechischen Götter der Zeit weiterhelfen, Chronos und Kairos.

Chronos kennen wir alle bestens, spätestens beim Blick in die Agenda. Er zählt die Stunden und bringt damit Ordnung und Struktur in die Welt, aber auch das Muster der ewigen Wiederholung des Gleichen. Chronos sorgt für Kontinuität, lässt uns unser Leben organisieren, Verabredungen treffen, Terminkalender führen und wenn er sehr präsent ist, lässt er uns Checklisten abarbeitend durch den Tag hetzen. Chronos wird meistens als älterer Mann mit langem Bart und einer Sanduhr in der Hand dargestellt, die für die unumkehrbar verrinnende Zeit steht, die wir nicht mehr zu haben meinen und die sich so oft leer anfühlt.

Kairos ist der jüngste und rebellischste Enkel des Chronos. Er sorgt für ein anderes Zeitempfinden, das sich wohltuender, voller und weiter anfühlt. Kairos besitzt die Fähigkeit, Veränderung und Einsicht herbeizuführen und kommt als junger, starker und muskulöser Gott daher. Er verfügt über zwei bemerkenswerte Accessoires; er hält er eine Waage in der Hand, die das sorgfältige Abwägen des günstigen Augenblicks, die richtigen Argumente und das richtige Mass symbolisiert. Zudem trägt er eine eigenwillige Frisur. Sein Kopf ist bis auf eine riesige Locke kahl rasiert. Diese gilt es im richtigen Moment zu packen, so wie die Seeschwalbe im besten Falle den Fisch.

Kairos steht für das Ergreifen der guten Gelegenheit, die sich einem dank Konzentration, Wachsamkeit und lebenskluger Wahrnehmung eröffnen kann. Eigentlich war Kairos eine Strategie, um sich von Chronos zu befreien. Die Menschen erkannten schon früh, das Chronos weder der Veränderlichkeit der Welt noch dem subjektiven Zeitempfinden gerecht werden konnte. Kairos steht in gewisser Weise für den gelebten Moment, der nur durch Aufmerksamkeit entstehen kann. In unserem meist gut durchorganisierten Leben geht Kairos gerne vergessen. Das ist nicht ungewöhnlich und spiegelt in gewissem Masse auch die Geschichte wieder. Bis zur Aufklärung war Kairos recht präsent. Dann verschoben sich die Welten des Nicht-Wissens und des Wissens und es sollte bis ins 20. Jahrhundert hinein dauern, bis Philosophen wie Friedrich Nietzsche, Ernst Bloch, Hannah Arendt, Henry Bergson und Martin Heidegger Kairos wieder zum Leben erweckten, teilweise auch ohne ihn beim Namen zu nennen. Martin Heidegger nannte den Kairos-Moment beispielsweise das „Anfängliche“, die Zeit, die uns neue Möglichkeiten eröffnet. Gemäss Henri Bergson wird die Zeit nur dann erlebt, wenn der Mensch es wagt, zur Ruhe zu kommen, seine Aufmerksamkeit zu fokussieren, sich von seiner Intuition leiten zu lassen und eine Haltung der interesselosen Betrachtung einzunehmen.

In unserem Leben brauchen wir beide, Chronos um unser Leben auf die Reihe zu kriegen und Kairos um nicht zu vergessen, wie sich Leben anfühlt. Kairos kann unser Denken und Fühlen über die Zeit ausserordentlich bereichern. Er kann uns daran erinnern, dass wir uns regelmässig einen Unterbruch in unserem chronos-geprägten Tun verschaffen sollten. Dass unser Gehirn ab und zu Ruhe braucht, wissen wir spätestens dann, wenn wir wieder einmal Urlaub machen und es schaffen, uns angemessen von unserem Mail-Account zu entfernen. Es fühlt sich grossartig an. Vor einigen Jahren habe ich mit einigem Unbehagen festgestellt, dass ich kaum mehr in der Lage bin, längere Texte konzentriert zu lesen. Vertiefte Lektüre in digitaler Form war mir nahezu unmöglich. Ich sprang von Schlagzeile zu Schlagzeile, las den Anfang und das Ende des Textes und schon war ich beim nächsten Artikel. Wenn ich das Tablet weglegte, fühlte ich mich zerstückelt und fahrig. Aber es war nicht nur das Lesen am Bildschirm. Auch bei Büchern stellte ich fest, dass mein Lesetempo oft nicht mehr dem Handlungstempo des Buches entsprach. Dies änderte sich auf wundersame Weise, als ich mein Tablet im Urlaub zum ersten Mal zu Hause liess und mein Handgepäckgewicht wieder mit Büchern strapazierte. Meine Augen sind mittlerweile in einem Alter, dass sie nicht mehr in der Lage sind, lange Texte auf dem Smartphone zu lesen, ich konnte also nicht ausweichen. Es war ein neues Lebensgefühl. So einfach, aber man muss es halt tun. Ich bin noch immer nicht die tieftauchende Leserin, die ich mal war, was ich aber in jedem Falle wiedergewonnen habe, ist die Freude am zeitvergessenen Lesen.

Dass solche kairotischen Verhaltensänderungen nicht nur schön, sondern auch notwendig sind, lässt sich wohl auch neurowissenschaftlich belegen. Bestimmte Bereiche unseres Gehirns sind immer dann aktiv, wenn gerade keine Aufmerksamkeit gefordert ist. Dies betrifft auch Bereiche, die daran beteiligt sind, wenn wir uns in andere hineinversetzen, wenn wir versuchen, uns ihre Reaktionen auf unser Verhalten vorzustellen und überhaupt, wenn es um ein moralisches oder einfach nur anständiges Miteinander geht, was mir in unseren oft emotional aufgeladenen Zeiten unverzichtbar erscheint. Die ständige Aufmerksamkeit, die uns die digitale Welt abverlangt, führt offenbar auch dazu, dass uns mit der Zeit die Fähigkeit verloren gehen kann, uns emphatisch zu verhalten. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Forschungsergebnisse jeweils den gegenwärtigen Stand des Irrtums abbilden und es zweifellos auch Studien gibt die sagen, dass es gar nicht so schlimm ist, tun wir immer wieder gut daran, uns bewusst zu machen, dass die Wirklichkeit nicht auf dem Bildschirm stattfindet.

Wenn gerade keine Aufmerksamkeit gefordert ist, passieren nämlich noch andere schöne Dinge; wir werden kreativ. Wir brauchen diesen Müssiggang, aber nicht, um danach wieder effizienter zu werden oder einen Beststeller zu schreiben, der uns reich macht. Die Achtsamkeitsindustrie lebt sehr gut von dieser Denkart. Wir brauchen den Müssiggang, der aus einer inneren Motivation und im besten Falle aus einer inneren Haltung herauskommt, die sich Freude nennt. Dann kann Schönes entstehen. Ganz ähnlich ist es auch bei der Meditation, die eine neugierige Haltung voraussetzt und eine (spirituelle) Motivation, die über die eignen Interessen hinausreicht. Wenn beispielsweise Unternehmen ihre Mitarbeitenden in Achtsamkeits- und Meditationskurse schicken, um sie leistungsfähig zu halten und damit einen Beitrag zu ihrer „Führungskultur“ zu leisten, dann sind wir irgendwo falsch abgebogen und in den Tunnel der Selbstoptimierung hineingefahren. Der Soziologe Hartmut Rosa nennt sowas den „rasenden Stillstand“. Damit ist eigentlich alles gesagt.

Was können wir also von Kairos lernen? Um es vorweg zu nehmen: Ich habe keine abschliessende Antwort darauf, aber die Erfahrung, dass die Beschäftigung mit einem neuen Zeitempfinden ungemein heilsam ist. Und ich habe den Verdacht, dass diese Beschäftigung mich dem Gefühl für den richtigen Augenblick näher bringt. Wir erwischen ihn nicht durch analytisches oder logisches Denken, sondern durch einen intuitiven Zugang zur Wirklichkeit, zur unmittelbaren Verbundenheit mit der Welt, die zu einem tief empfundenen Vertrauen führt. Wir alle hatten diesen Zugang, von sehr langer Zeit, bevor wir als Kind ein „Ich“-Bewusstsein entwickelten. Indem wir „Ich“ zu sagen beginnen, stellen wir uns den anderen gegenüber und bilden nicht mehr das selbstverständliche „Wir“, das wir früher mit unseren Eltern oder der uns umgebenden Welt waren, so die Schriftstellerin, Philosophin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé. Sprechen heisst trennen und unterscheiden. Deshalb braucht es die Stille, um Verbindung spüren zu können.

Die Zeit, wie wir sie aus der frühesten Kindheit kennen, aber meistens vergessen haben, finden wir oft in der kreativen Betätigung wieder. Wir erleben die Welt sinnlich, haben sie aber noch nicht sprachlich erfasst. Vielleicht geht es in einem ersten Schritt einfach einmal darum, etwas zu tun, was uns die Zeit zurückbringt. Was das genau ist, muss jede und jeder für sich selbst herausfinden. Im Zweifel vielleicht einfach mal fallen lassen, wie die Seeschwalben.

Wer sich nun zeitvergessen in weiterführende Lektüre fallen lassen möchte, dem seien folgende Bücher empfohlen:

Joke J. Hermsen, Kairos, Vom Leben im richtigen Augenblick, Harper Collins Verlag 2023

Maryanne Wolf, Schnelles Lesen, langsames Lesen, Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen, Penguin Verlag 2019

Konrad Lehmann, Das schöpferische Gehirn, Auf der Suche nach der Kreativität – eine Fahndung in sieben Tagen, Springer Verlag 2018

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Marion

Dozentin, Schreibpädagogin und Yogalehrerin

Ein Gedanke zu “In die Zeit fallen”

  1. Liebe Marion, was für ein schöner, gefühlvoller und lehrreicher Beitrag. Ich liebe deine „Schreibe“! Fundiert, durchdacht und dabei so wunderbar leicht.

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