Es ist schon spät am Abend. Ich sitze in der Küche bei einer feinen Tasse Tee und schreibe. Kater Rumi mauzt. Nein, er quengelt. Er will raus auf seine Abendrunde. Leicht genervt unterbreche ich meinen Schreibfluss, öffne die Terrassentür und er schlüpft raus in die Dunkelheit. Kaum habe ich die Türe geschlossen, steht er wieder da und schaut mich durch die Glasscheibe an wie ein Auto. Das tut er öfters, wenn er erst draussen merkt, dass es regnet und er keine Lust auf nasse Pfoten hat. Heute ist aber ein schöner und noch warmer Spätsommerabend. Ich öffne die Türe, Rumi flitzt wieder in die Küche und versteckt sich hinter meinen Beinen. Draussen auf der Terrasse entdecke ich etwas, das wie eine grosse Kugel aussieht. Erst auf den zweiten Blick sehe ich, dass es ein Igel ist. Ich kann nicht anders. Ich muss laut lachen. Gut, es ist ein grosser Igel, aber Rumi ist kein Leichtgewicht und durchaus wehrhaft. Ich schaue zu ihm runter und mir wird ganz warm ums Herz. Er sitzt jetzt neben meinen Beinen und schaut mit einem offensichtlichen Unbehagen Richtung Igel. Einen Hund würde er anknurren, mit einer klaren Absicht. Der Igel hingegen scheint ihn zu treffen. Mitten in seine Verletzlichkeit. Und die Tatsache, dass ich ihn gerade auslache wahrscheinlich auch.
Werden wir mit unserer Verletzlichkeit konfrontiert, gibt es zwei Möglichkeiten. Wir aktivieren aus Angst unsere Schutzschilder oder wir lassen die Verletzlichkeit zu. Ein beliebter Schutz ist der Perfektionismus. Hier geht es nicht darum, etwas besonders gut zu machen. Es geht letztlich allein darum, eine Beurteilung, die wir fürchten, zu vermeiden und eine Bestätigung zu bekommen, die wir gerne hätten. Erwiesenermassen ist Perfektionismus keine erfolgreiche Strategie. Oft gehen Depression, Ängstlichkeit, Sucht, Scham und die unterschiedlichsten Formen von Selbstzerstörung mit ihm einher. Ein weiterer beliebter Schutz vor Verletzlichkeit ist die emotionale Betäubung. Wenn wir Angst haben, uns abgesondert, verletzlich allein und hilflos fühlen, erscheinen Alkohol, Essen, Arbeit und endloses Surfen im Internet wie ein Trost. Danach fühlen wir uns aber meist wieder leer und auf der Suche.
Meist betäuben wir irgendein Unbehagen. Doch genau dort liegt der Schlüssel, um die nächste Tür zu öffnen. Den Mut zur Unbequemlichkeit müssen wir kultivieren. Ab und zu müssen wir es einfach aushalten, wenn es so richtig ungemütlich wird. Das hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun. Im Gegenteil. Es ist ausgesprochen mutig. Jede Führungskraft, die schon einmal einen Change-Prozess begleitet hat, kennt diesen Prozess, hoffentlich. Sich auf ein Unbehagen einzulassen bedeutet gleichzeitig, dass wir uns auf unsere Verletzlichkeit einlassen.
Gehe wir durch diese Tür und akzeptieren wir unsere Verletzlichkeit, werden wir anders. Weshalb ist das so? Und was ist das? Auf meiner eigenen Reise erfahre ich es so: In dem Moment, indem ich mich richtig darauf einlasse, dass mir eine Situation Unbehagen verursacht, werde ich ganz ruhig. Ich gehe komplett aus dem Widerstand heraus und lasse es einfach zu, dass jemand meinen Entscheid und vielleicht auch mich doof findet. Ich halte es einfach aus und je länger ich das tue, je länger ich mich meiner Verletzlichkeit stelle, umso durchlässiger werde ich. Nein, nicht dünnhäutig, sondern durchlässig. Ich fühle, ob etwas richtig ist oder nicht. Und das, was ich fühle, ist reines Vertrauen in das Leben.
Legen wir unseren Panzer ab, verändert sich alles. Es ist ein bisschen so, wie wenn das trübe Wasser klar wird. In dieser Form von Stille, die einfach im Aushalten oder Zulassen besteht, setzt sich der Schlamm. Das ist keine Frage des Willens, es geschieht nicht im Kopf sondern woanders. Das ist auch das Problem mit der inneren Stimme. Man kann sie nicht hören wollen. Deshalb hört man sie auch nicht in erster Linie auf dem Meditationskissen. Man kann das versuchen. Wenn ich mich aber auf mein Kissen setze mit der Absicht, in mich hinein zu hören, verlaufe ich mich meistens und lande irgendwo weit oben. Ich höre dann schon etwas, aber es kommt aus meinem Kopf und meistens ist es ziemlich laut. Laute Gedanken. Die innere Stimme – oder das Selbst – ist aber leise, sehr leise. Deshalb kann man sie wohl gar nicht wirklich hören, sondern nur FÜHLEN.
Mein Selbst und ich führen eine komplizierte «on and off»-Beziehung. Fahre ich meine Selbstschutzmechanismen wieder hoch, spüre ich nichts mehr. Das passiert rasch, und das kann ich richtig gut. Jahrelange Übung löst sich nicht so rasch in Luft auf. Seit mich die Wechseljahre mit allerlei «weniger von xyz» in Form von Wein, Kaffee oder Schokolade überraschen, ist aber selbst die Form der Betäubung etwas komplizierter geworden. Nüsse gehen aber immer. Ich mutiere in solchen Situationen jeweils zum Eichhörnchen. Manchmal erwische ich den Moment aber. Der Moment, indem ich im Unbehagen stehen bleiben soll. Ich stehe dann allerdings nicht, sondern setze mich auf mein Meditationskissen. Und nein, nicht um meine innere Stimme zu hören, das geht ja bekanntlich nicht, wenn ich das will, sondern um zu warten, bis der Eichhörnchen-Impuls vorbei ist.
Bei der Meditation geht es auch darum, in einen Bereich jenseits der alltäglichen Gedanken vorzudringen. Der ruhige Geist ist dabei kein Ziel an sich, er ist einfach eine Startrampe. Wenn ich mich in so einer Situation auf mein Kissen setzte erhole ich mich von einem Ungleichgewicht, das mich vorübergehend aus der Balance gebracht hat. Dazu müsste ich mich nicht einmal auf ein Kissen setzen. Ich könnte mich auch einfach wie an einem Anfängerinnen-Tag ganz achtsam einen Tee kochen. In der Achtsamkeit erholt sich mein Geist von Ablenkung. Oder ich könnte mich auf nur eine Sache konzentrieren, zum Beispiel auf eine Strickarbeit. Konzentriere ich mich, erholt sich mein Geist von Sinnlosigkeit. Und nein, stricken ist nicht sinnlos. Schon gar nicht, wenn nicht mehr über 19 Grad geheizt werden darf. Oder ich atme kontrolliert. Dann erholt sich mein Geist von Stress. In Eichhörnchen-Momenten brauche ich aber meist einen ruhigen Geist, weil ich mich von Überlastung erholen muss. Deshalb setze ich mich dann doch auf mein Kissen und warte, bis das trübe Wasser wieder klar wird.
In der Stille kann das Bewusstsein wachsen. Und zum Bewusstsein gehört auch, dass wir uns wieder mit unseren wahren Gefühlen verbinden. Erst wenn wir unsere innere Stimme fühlen, entsteht das Vertrauen, das wir brauchen, um ein zufriedenes Leben zu führen. Letztlich geht es darum, sich der inneren Bestimmung des eigenen Lebens bewusst zu werden. Und das können wir nur, wenn wir uns in unserem Vertrauen verankern können.
Vertrauen ist nichts anderes als akzeptierte Verletzlichkeit. Und Verletzlichkeit ist immer auch Mut. Ich bin stolz auf Rumi und es tut mir leid, dass ich ihn ausgelacht habe. Die Sache mit dem Igel war richtig mutig.
Hier enden die Einblicke in die Reise der Stille. Möchtest Du mehr stille Geschichten lesen? Dann freue Dich auf das Buch. Coming soon…