Stell Dir vor, Du hast plötzlich Zeit

Seit neuestem habe ich Zeit. Das macht mich zumindest gefühlt zu einem freundlicheren Menschen. Und es ermöglicht mir hemmungslos das zu tun, was ich ohnehin am liebsten tue: lesen. Ich lese nun Bücher mit offenem Zeithorizont. Es ist nicht mehr dieses: IchmussdasjetztineinerWochelesen denndannistderUrlaubvorbeiundichverlierewiederdenFadenweilichamAbendvorlauterMüdigkeitnochgeradezweiSeitenlesenkann-Lesen. Ich kann jetzt zwei Seiten lesen, darüber nachdenken und danach einfach weiterlesen. Ein neues Lebensgefühl. Und ich lese wieder Zeitung. Das tat ich schon, als ich noch im Büroalltag eingebunden war, es gehörte zu meiner Arbeit. Ich scrollte mich vornehmlich durch die Schlagzeilen bis mein Hirn verpuzzelte und ich davon überzeugt war, dass die Welt verrückt ist, untergeht oder zumindest nicht besser wird. Jetzt lese ich die Zeitung analog und habe nach einer Stunde Druckerschwärze an den Fingern. Das macht die Welt nicht friedlicher, aber deutlich langsamer, was zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung ist.

In den Zeitungen und Zeitschriften gibt es im Moment ein allgegenwärtiges Thema, das entsprechend dem Zeitgeist auch zur Prophezeiung des Weltuntergangs geeignet ist: Künstliche Intelligenz. Informationen scheinen einen unfassbar hohen Preis zu haben, obwohl heute das Kopieren, Verbreiten und Produzieren derselben gänzlich kostenlos ist. Zu verdanken haben wir dies Gutenbergs Buchdruck, dem Internet und ChatGPT. Ich kann nicht umhin, das Ganze nicht nur schlecht zu finden, obwohl ich ein analoges Fossil bin. Mich erinnert diese vermutete grundlegende Veränderung der Welt an die Taschenrechnerdiskussion in meiner Schulzeit. Das damals prophezeite Ende der Mathematik ist nie eingetreten. Ganz persönlich wäre ich darüber ja nicht einmal traurig gewesen. Wahrscheinlich hätte ich dann nämlich nicht Jura studiert um der Mathematik garantiert auszuweichen. Der Weg, zwischenzeitlich das eigenständige Denken zu verlernen, wäre mir damit erspart geblieben. Jedenfalls erscheinen all die damaligen Verbote, den Taschenrechner in der Schule zu nutzen, aus heutiger Sicht ein wenig seltsam. Nicht weniger seltsam erscheinen mir die gegenwärtigen Versuche, den Einsatz von ChatGPT an Schulen und Arbeitsplätzen zu verbieten oder einzuschränken. Der Taschenrechner hat vielleicht dazu geführt, dass den meisten Menschen das Kopfrechnen noch ein wenig schwerer fällt als ohnehin schon. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich beim Schreiben durch die Möglichkeiten von ChatGPT ähnlich entwickeln wird. Man kann sich aber fragen, wie gross der Schaden für die Menschheit tatsächlich wäre und ob es nicht viel zielführender wäre, die Energie statt für Regulierungsdiskussionen vielmehr für den Umgang mit neuen Technologien einzusetzen. Aber den gängigen Mechanismus, Sicherheit durch Verbote zu erreichen, muss man im Moment wohl einfach aushalten.

Ich will das an dieser Stelle nicht vertiefen. Es gibt eine ganze Menge Expertinnen und Experten, die sich gerade medienwirksam darüber austauschen. Vielleicht könnte man die Thematik aber in einen übergeordneten Kontext einbetten. Könnte es sein, dass künftig vielmehr Prozesse und Handlungen an sich an Bedeutung gewinnen werden als Ziele und Ergebnisse? Ich räume ein, mich haben Haltungen schon immer mehr interessiert als Ziele. Nicht erst, seit ich Kant gelesen habe. Die Yogis kennen diese Fragen schon lange: 1. Gewahrsein im Jetzt statt Erfolg; ist vielleicht der Schreibprozess an sich das, was am Ende des Tages zählt und weniger das Buch, das in den unendlichen Weiten von Amazon verglüht? 2. Wertfreie Beobachtung statt Bewertung und Vergleich; was geschieht, wenn ich mich von allen Social-Media-Kanälen eine Zeit lang fernhalte? 3. Akzeptanz dessen was ist statt Erwartung; verändert sich ein Problem, wenn ich es akzeptiere und damit aus dem Widerstand herausgehe?

Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen würde die Welt tatsächlich zu einem friedlicheren und nicht nur zu einem langsameren Ort machen. Träumen darf man ja. Bis es soweit ist, mach ich es einfach zu meinem persönlichen Projekt. Vielleicht ist es das Wichtigste was geschieht, wenn man plötzlich Zeit hat. Man kann sich vermehrt den Fragen widmen und so langsam in die Antworten hineinleben, wie Rilke so schön sagte. Zufrieden macht es allemal.

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Marion

Dozentin, Schreibpädagogin und Yogalehrerin

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