Präsenz entsteht durch Körperwahrnehmung (Reise in die Stille Teil 4)

Seit einiger Zeit trage ich Zehensocken. Weshalb? Um der altersbedingten Verformung des Körpers im Allgemeinen und speziell meiner Füsse vorzubeugen. Ich mag meine Füsse. Irgendwo muss man ja mal anfangen, seinen Körper zu mögen. Der Bauch bietet sich jenseits der Lebensmitte nicht so an, er ist eher etwas für Fortgeschrittene. Füsse haben etwas Neutrales, man kann sich ihnen freundlich annähern.

Seit ich diese Zehensocken trage fällt mir auf, dass ich bewusster gehe. Plötzlich spüre ich jeden einzelnen Zeh. Das ist interessant. Ich gehe auch langsamer. Dies wiederum hat zur Folge, dass ich mir mehr Zeit nehmen muss, um von A nach B zu kommen. Dies wiederum entspannt mich und mein Umfeld. Ich weiss, es gibt Menschen, die schätzen es nicht sehr, wenn ich auf den letzten Drücker zu einem Termin erscheine. Ich komme fast nie zu spät, ehrlich. Aber es will sich mir einfach nicht erschliessen, weshalb ich mich bereits Minuten, bevor der Zug einfährt, am Gleis einfinden soll. Zumal es in Bahnhöfen nie sonderlich angenehm riecht. Aber zurück zu den Zehensocken. Das Gehen fühlt sich anders an, irgendwie würdevoll. Diese Hetzerei hat etwas Entwürdigendes. Das fällt mir erst jetzt auf. Ich beobachte nämlich gerade, wie Kater Rumi über den Rasen schreitet. Er würde nie hetzen, ausser, wenn er sein Terrain verteidigt oder von einem Hund irritiert wird. Ansonsten geht er immer würdevoll.

Rumi kann das ohne Socken. Ich so langsam auch, weil ich gelernt habe, meine Füsse wahrzunehmen. Und diese Wahrnehmung des Körpers hat zur Folge, dass ich heute viel weniger als früher kopflos einer Möhre hinterherrenne. Jetzt fällt mir plötzlich die wunderschöne kleine gelbe Blume auf, die sich am Strassenrand durch den Beton befreit hat und nun in die Welt strahlt. Im unbewussten Zustand hätte ich sie – wie viele andere Wunder die in jedem Moment geschehen – nie wahrgenommen. Es geht also nicht darum, sich nicht zu bewegen, um zur Ruhe zu kommen, sondern schlicht und einfach darum, Ruhe in die Bewegung zu bringen.

Es ist kein Geheimnis. Körperwahrnehmung schafft Präsenz. Dies können wir vor allem in der Bewegung erfahren. Jede bewusste Bewegung verändert etwas. Ob wir am Stehpult arbeiten statt zu sitzen, zwischen zwei Besprechungen ein paar Liegestütze machen, eine Runde joggen oder eben ganz bewusst von A nach B gehen. Verändern wir etwas, statt in unseren Alltagsroutinen oder vor dem Bildschirm zwischen unseren Schultern zu versinken, werden wir aufmerksam. Und die Zeit wird vertikal. Wir können damit ganz bewusst schädliche Muster durch das Erlernen neuer Muster verdrängen. Und ganz besonders gut klappt das beim Erlernen neuer Bewegungsmuster.

Man kann diese Worte lesen oder hören, sie leuchten ein. Dennoch geschieht: nichts. Bevor ich begann, regelmässig zu meditieren, las ich unzählige Bücher über Meditation. Dennoch blieb ich immer wieder in dieser Lücke zwischen dem Wissen und dem Handeln hängen. Damit etwas geschieht, muss man es TUN. Dann beginnt man zu FÜHLEN. Und erst das Fühlen schafft die Präsenz.

Das Fühlen ist vielen von uns in unserem durchgetakteten Alltag ein bisschen abhanden gekommen. Dass zunehmend der Verstand das Zepter übernommen hat, ist aber nicht erst eine Nebenerscheinung unserer Leistungsgesellschaft. Diese Entwicklung geht auf die Aufklärung zurück. Das hat zweifellos zahlreiche Vorteile und es hat uns zumindest viel Wohlstand gebracht. Um zufrieden und zuversichtlich leben zu können, müssen wir aber in der Lage sein, etwas zu empfinden. Der reine Verstand, mit dem wir bisher versucht haben, besser, schneller, weiter und möglichst auch höher voranzukommen, führt uns vermutlich nicht dorthin, wo wir wirklich hinwollen. Wollen wir uns nicht selber verlieren, sollten wir uns auf den Weg machen, die Einheit von Denken, Fühlen und Handeln wiederzufinden.

Vielleicht sollten wir einfach in die Zeit zurückgehen, bevor uns das Leben dazwischenkam, zu unserem ursprünglichen Zustand und uns daran erinnern, was schon immer in uns war. Im Yoga kennen wir die «Happy Baby Pose». Schon einmal versucht? Einfach auf den Rücken legen, die Beine zur Brust ziehen, die Fussaussenkanten greifen und die Knie in Richtung Achselhöhlen bewegen. Am besten noch ein wenig hin- und herschaukeln und irgendwann bekommt man richtig Lust, vor Freude zu quietschen. Richtig: weil wir uns erinnern. Oder wie es bereits der Hypnotherapeut Milton Erickson ausdrückte: «Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben».

Unser Körper war ursprünglich mit unserem Gehirn unglaublich eng verbunden. Deshalb bietet der Körper auch einen besonders leichten Zugang zu allen Ebenen des Erlebens und Verhaltens, zu den im Gehirn abgespeicherten Sinneseindrücken und zu unseren frühen Erinnerungen (Quieetsch!). Viele Menschen finden deshalb auch wieder den Zugang zu sich selbst, wenn sie ihren Körper neu entdecken.

Veränderungen unserer Körperwahrnehmung spüren wir auf allen Ebenen unseres Seins. Bei dieser Verbindung spricht man auch von Embodiment. Wir verstehen die Welt durch unseren Körper. Wenn wir etwas verstanden haben, dann hat es Hand und Fuss. Wir gehen nicht einfach, sondern wir nehmen ganz bewusst die Verbindung zwischen unseren Füssen und dem Boden wahr (s. Teil 3, Die Lösung des Problems heisst Präsenz). Das sind die Momente, in denen wir ahnen, wie sich das Wahre anfühlen kann.

Wie können wir das Wahre nicht nur im Sinne einer Ahnung spüren, sondern auch erkennen? Das erfährst Du im nächsten Blog.